Bruno Maderna und Darmstadt
Am 21. April 2020 hätte der Komponist und Dirigent Bruno Maderna (21.04.1920 Venedig – 13.11.1973 Darmstadt) seinen 100. Geburtstag gefeiert. Als musikalisches Wunderkind an der Geige schon früh bekannt geworden, war Maderna nach seinen Studien an den Konservatorien von Venedig, Mailand und Rom u. a. Schüler von Gian Francesco Malipiero (Komposition) und Hermann Scherchen (Dirigieren). Bereits 1949 wurde seine „Fantasia per due pianoforti (B.A.C.H.-Variationen)“ bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt uraufgeführt, an denen Maderna 1951 erstmals teilnahm und mit denen er fast 20 Jahre lang eng verbunden blieb. Bis 1973 wurden hier 18 seiner Werke aufgeführt, darunter 12 Uraufführungen.
Im Archiv des IMD finden sich zahlreiche Fotos, Mitschnitte von Konzerten und Vorträgen, Briefe und Dokumente, die Madernas herausragende Bedeutung für die Geschichte der Darmstädter Ferienkurse dokumentieren.
Bruno Maderna dirigierte von 1952 bis 1968 über 40 Konzerte mit insgesamt über 120 Werken bei den Ferienkursen, mehr als jeder andere Dirigent. Über 50 Kompositionen hat er in Darmstadt als Dirigent uraufgeführt.
Als Dozent der Ferienkurse trat Maderna erstmalig 1954 in Erscheinung und leitete 1955 gemeinsam mit Pierre Boulez und Hans Werner Henze 1955 eine „Internationale Arbeitsgemeinschaft junger Komponisten“:
1955 gründete Maderna gemeinsam mit Luciano Berio das Elektronische Studio (Studio di Fonologia Musicale) beim italienischen Rundfunk RAI in Mailand und berichtete ein Jahr später über dessen Arbeit in Darmstadt:
„Luciano Berio und ich haben bei Radio Mailand ein Studio für elektronische Musik gründen können. Die günstigen Voraussetzungen dafür sind vor allem durch den Kontakt zwischen den Technikern und den Akustikern und uns Musikern gegeben. Tatsächlich sind unsere technischen Mitarbeiter so aufgeschlossen, daß sie sich mehr und mehr für unsere musikalischen Fragen interessieren, und wir gehen dafür den Weg zur Technik. Wir verlassen uns nicht auf das, was wir bisher erfahren und gelernt haben, sondern wir fangen ganz von vorne an. Denn die Übertragung unserer bisherigen handwerklichen Methoden in das neue Medium ist sinnlos und führt zu Widersprüchen. Technische und musikalische Phantasie sollen in unserer Arbeit gemeinsame Wege gehen, um dem einen Gedanken zu dienen, dem Musiker die neue Klangwelt zu erschließen, sie zu beherrschen, um unsere Vorstellungen den anderen Menschen immer klarer mitteilen zu können.” (Gesprächsrunde über „Kompositorische Möglichkeiten der elektronischen Musik“, 20. Juli 1956, IMD-M-6184)
„Die Begegnung mit den elektronischen Mitteln bewegte einen wirklichen Umsturz meiner eigenen Beziehung zur musikalischen Klangmaterie. Hier muss sich sozusagen die intellektuelle Metabolik des Komponisten ganz neu einstellen. Beim instrumentalen Komponieren geht die Entwicklung der Gedanken meistens linear voran, eben weil es sich um eine gedankliche Entwicklung handelt, die nicht in ständigem Kontakt mit der Materie steht. Im Gegenteil – die Tatsache, dass man im elektronischen Studio die Vorstellung von Klangstrukturen gleich praktisch ausprobieren kann, dass durch ständige Manipulation die so entwickelten materiellen Gebilde ständig verändern und erneuern kann und endlich, dass man sich so einen Vorrat an musikalischen Teilelementen auf Seite legen kann, stellt den Musiker vor eine neue Lage. Die Zeit stellt sich ihm jetzt als das Feld einer großen Anzahl von Permutations-, von ordnungsmöglichkeiten dieses hervorgebrachten Materials [dar]. Wir finden zwar jetzt die ersten Ansätze zu einem solchen Denken und zu einem solchen Verfahren auch in der instrumentalen Musik; es wäre sinnlos zu bestreiten [darüber zu streiten], ob die elektronische Erfahrung eine solche Erneuerung ausgelöst hat, oder ob sie vielmehr schons elbst das Resultat einer Entwicklung in dieser Richtung war. Unbestreitbar bleibt, dass sie die Richtigkeit einer solchen Konzeption zu erweisen ermöglicht, nämlich, dass eine Struktur nicht nur eine, sondern, je nach ihrer Stellung im Ganzen, eine große Anzahl von Funktionen auf sich nehmen kann. Das Hören selbst von elektronischen Stücken oder von instrumentalen Stücken, die vom selben Denken ausgehen, ist dann von dieser Wirklichkeit gezeichnet. Man hört nicht mehr in eine lineare Zeit hinein, sondern es kommen viele unabhängige Zeitprojektionen in das Bewußtsein, die sich nicht mehr als eine eindimensionale Logik darstellen lassen. Und daran liegt vielleicht noch mehr als an der Erneuerung der klanglichen Erscheinung, das [dem] Unerhörteste[n] der elektronischen Musik – das, wodurch der unerfahrene Hörer am meisten aus der Fassung gebracht wird.
Als ich anfing, mit elektronischen Mitteln zu komponieren, befürchtete ich ganz besonders, diese Mittel auf eine nicht adäquate Weise zu gebrauchen. Um diese Furcht zu überwinden, überließ ich mich lieber meiner musikalischen Intuition als einem rationalen Vorurteil.“ (Vortrag „Kompositorische Erfahrungen mit der elektronischen Musik“, gehalten am 26. Juli 1957 in einer gemeinsamen Veranstaltung mit Henri Pousseur, IMD-M-6347)
Neben seinem außerordentlichen Engagement als Dirigent und als Dozent von Kompositions- und Dirigierseminaren der Ferienkurse übernahm Maderna 1961 auch die Leitung des neu gegründeten Kranichsteiner Kammerensembles – dem ersten Spezialensemble für Neue Musik. Deutsche, italienische, französische und englische Musiker gehörten ihm an. Ab 1962 leitete Maderna das Ensemble gemeinsam mit Pierre Boulez.
Der niederländische Dirigent Lucas Vis war mehrere Jahre Madernas Assistent, auch bei einem Dirigierkurs 1969 bei den Darmstädter Ferienkursen. Er erinnert sich an Maderna:
„Ein unglaublicher Mensch! Er war alles gleichzeitig: wahnsinnig begabt, als Komponist, als Dirigent, als Mensch. Er hat sofort, die Atmosphäre verstanden. Wenn wir jetzt sprechen von Psychologie mit Orchester, auch wann er mal böse werden muss. Die Freundlichkeit, das Vertrauen geben, ein unglaubliches Talent mit Musik: Er konnte die schwierigsten Partituren vom Blatt dirigieren und sofort verstehen. Ein Mensch mit sehr viel Humor, mit sehr viel Humor! Man konnte wahnsinnig mit ihm lachen.
Gleichzeitig hat jeder gedacht: Wie ist es möglich? Er lebte eigentlich drei Leben gleichzeitig. Er schlief viel zu kurz, er aß zuviel, er trank zuviel, er war so [Geste vor dem Bauch], er rauchte wie ein Verrückter. […] Ja, und schon mit 53 ist er gestorben.“
„Ich denke oft an ihn bei Partituren, bei Musik, da denke ich eigentlich immer: Was würde er dazu sagen, mit seiner Kenntnis der ganzen Musik, von alter Musik, von Renaissance, von Neuer Musik, von Romantik und Klassik…? Man muss sich vorstellen: Ich kam von der Musikhochschule, da war es altmodisch, tüchtige Arbeit. Man musste sehr lange an bestimmten Sachen arbeiten, ganz genau so, und so, und so. Das war Schule, Schule, Schule, Schule. Und dann habe ich Bruno Maderna kennen gelernt und plötzlich gingen die Türen auf, die Fenster gingen auf: Ahhh, so ist das in der Welt!“
Von 1962 bis zu seinem Tod lebte Maderna in Darmstadt, wo er auch auf dem Alten Friedhof beerdigt ist.