Wolfgang Rihm ist zweifelsohne einer der bedeutendsten, meistgespielten, meistgehörten und meistdiskutierten Komponisten der Gegenwart. Sein Œuvre umfasst heute mehr als 500 Werke, am 13. März 2022 feierte dieser Ausnahmekünstler seinen 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass werfen wir einen Blick ins IMD Archiv und auf Wolfgang Rihms Zeit bei den Darmstädter Ferienkursen, die vor 52 Jahren begann.
1970 war das Jahr, als die Ferienkurse im Post-68er-Getümmel ins Schlingern gerieten und danach von einem jährlichen auf den biennalen Veranstaltungsrhythmus wechselten. Genau in dem Jahr kam Wolfgang Rihm mit jungen 18 Jahren zum ersten Mal als Teilnehmer zu den Ferienkursen. Seine Heimatstadt Karlsruhe ermöglichte ihm die Teilnahme durch ein Stipendium. Danach war er vier weitere Male als Teilnehmer in Darmstadt und machte bereits bei seiner zweiten Teilnahme 1972 mit dem Cellostück Grat auf sich aufmerksam. 1974 präsentierte der Pianist Cristian Petrescu dann die erste von mehreren Uraufführungen Rihmscher Werke in Darmstadt: Klavierstück Nr. 4 erlebte am 6. August 1974 im Studiokonzert IV in der Georg-Büchner-Schule seine Premiere. Gerade Rihms frühe Darmstadt-Jahre stehen sinnbildlich für den erstaunlichen Werdegang des Komponisten. Mit gerade einmal 26 Jahren zeigte er hier 1978 seine gewichtige, einstündige Musik für drei Streicher, hielt den programmatischen und vielfach zitierten Vortrag „Der geschockte Komponist“ und wurde am Ende der Ferienkurse mit dem Kranichsteiner Musikpreis ausgezeichnet. Der Freigeist, der Wolfgang Rihm damals schon war, erregte Aufsehen. Denn anders als viele vor ihm, stand Rihm wieder selbstbewusst zu subjektiven kompositorischen Entscheidungen und plädierte dafür, sich von einengenden musikalischen Systemen freizumachen.
Als Rihm 1980 nach Darmstadt zurückkehrte, war er nicht mehr Teilnehmer, sondern von da an Dozent der Ferienkurse: Er übernahm einen Kompositionskurs und koordinierte die Kompositionsstudios. 1982 gab er gemeinsam mit dem 17 Jahre älteren Helmut Lachenmann ein Seminar „Komponistendialog Helmut Lachenmann – Wolfgang Rihm“. Die unterschiedlichen ästhetischen Positionen der beiden wurden dabei klar formuliert. Rihm erinnert sich aber, „dass wir immer versucht haben, die Position des anderen durch das eigene Verstehen zu bereichern und nicht nur zu übertrumpfen.“ Bis 1990 war Rihm bei jeder Ferienkurs-Edition in Darmstadt zu Gast, machte dann – nicht zuletzt aus Mangel an Zeit in den Sommerwochen – immer wieder Pausen, kehrte jedoch ebenso regelmäßig wieder zurück. 2002, 2004 und 2008 wurden in größeren Veranstaltungsblöcken 13 Werke vorgestellt, ganz aktuelle vom Anfang der 2000er Jahre, etwas weiter zurückliegende aus den 1990er Jahren, aber eben auch mehrmals die große Musik für drei Streicher mit dem trio recherche, zuletzt 2016, als in der Reihe „Rückspiegel“ auf 70 Jahre Ferienkursgeschichte zurückgeblickt wurde. Wenn Wolfgang Rihm im Jahr 2022 seinen 70. Geburtstag feiert, so ist er ohne Frage ein gewichtiger Teil der Darmstadt-Geschichte, gestern ebenso wie heute. Wir gratulieren ihm sehr herzlich!
Anmeldung Wolfgang Rihms zu den Ferienkursen 1970
Wolfgang Rihm 1978 in Darmstadt
Wolfgang Rihm: Der geschockte Komponist, Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen 1978 (Ausschnitt, B007291269)
„Musik wurde in Melodien, in Räumen, in Flächen gedacht, wir versuchen, sie in Schichten zu denken. Aber wir denken nicht von innen aus den Schichten, wir denken auf den Schichten, wir treiben darauf hin. Um von innen heraus denken zu können, müssten wir selber in jeder Schicht präsent sein. Das wäre Imagination: Selbstteilung und dann unsere chorische Stimme… Der musikalische Raum ist präsent in Schichten, unser Komponieren besteht darin, diese Schichten aufeinander bezogen zu bewegen. Jede Schicht hat eine eigene Atmosphäre, in welcher ein eigener Aggregatzustand von Musik möglich ist. Daraus ergibt sich eine Vielfalt von Erscheinungen, die wir als Wesen von Musik erkennen. Es sind also gerade das Wesen und die Erscheinungsbilder von Musik, die uns heute interessieren und aus denen wir kompositorisch schließen. Boulez hat einmal, Rougier paraphrasierend, geschrieben: „… gehen wir nicht von ‚Wesen und Erscheinungsbildern‘ der Musik aus, sondern denken wir sie uns in ‚Begriffen, die auf Beziehungen und Funktionen deuten‘.“ Zumindest als theoretischer Ansatz bildet das den fundamentalen Gegensatz zu unserer Denkweise. Musik ist nicht begriffsfähig. Wir können sie auch nicht durch Begriffe definieren, geschweige denn sie in Begriffen denken, was ja nichts anderes heißt als mit ihren postulierten Begriffen zu komponieren. Ein absurder Akt: Unmöglichkeit der Definition ist die Definition. Aber es geht Boulez ja auch nicht um Definition, sondern um kompositorische Methode. Durch eine geringe Operation können wir eine starke Beziehung zu unserer Denkweise herstellen. Ersetzen wir nur „Begriff“ durch „Gestalt“. Denn: gestaltfähig ist Musik in starkem Maß. Ihre Möglichkeit, Zeit, Raum und Moment plastisch zu formulieren und mit ihren Gestalten zu komponieren, wird gerade durch ihre Begriffslosigkeit begünstigt. Weil Musik ungebunden ist, kann sie erst Räume erfüllen: sowohl einen Konzertsaal als auch die Einzelseele.“ (Wolfgang Rihm: Der geschockte Komponist, Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen 1978)
Im Dialog mit Helmut Lachenmann bei den Darmstädter Ferienkursen 1982
„Aber ich suche nicht die Kultiviertheit im Klang. Ich suche das Rumoren im Klang. Eigentlich suche ich einen viel unschöneren Klang als Du ihn hast. Mit der Geräuschhaftigkeit Deiner Klanglichkeit entsteht eigentlich ein viel schönerer Klang als mit der ins Fortissimo getriebenen, formalen, banalen philharmonischen Situation bei mir.“ (Wolfgang Rihm zu Helmut Lachenmann im Seminar 1982, Auseinandersetzung um den Begriff „Struktur“, B016240187)
Rihm referiert im Komponistenforum 1984
„Gibt es Fehler in der Kunst? Eigentlich kann Musik nicht ‚falsch‘ sein: Denn selbst die Regelverletzung innerhalb einer akzeptierten syntaktischen Methodenstrategie ist ein Wahrheitsmoment, und sogar mögliches Wachstumspotential. Durch Mutation entsteht oft mehr als durch Konstruktion (…).“ (aus dem Vortrag „Neotonalität?“ 1984, Teil 2, B016493559)
Mit Morton Feldman in Darmstadt 1986
2002 bei den Proben zum Eröffnungskonzert der Ferienkurse: Aufführung von „La lugubre gondola / Das Eismeer. Musik in memoriam Luigi Nono (5. Versuch)“
„Ich möchte jetzt nicht zu einer Mythologisierung beitragen, die gar nicht von mir betrieben wurde. Wenn ich schon höre: heroisches Darmstadt. Das war nie heroisch! Das war ein Treffpunkt von Handwerkern, die über Bauhüttengeheimnisse offen gesprochen haben. Es gab kein heroisches Darmstadt. Wenn Helden sind – wo wären die Ungeheuer, gegen die sie kämpfen? Wo wären die Drachen? Die waren entweder alle schon tot, oder gar nicht vorhanden. Natürlich kann man Held spielen, in dem man ein Holzschwert nimmt und gegen Schatten antritt. Also, in die Situation war ich nicht gestellt. Ich war und bin immer wieder gerne nach Darmstadt gekommen, um etwas mitzubekommen, um etwas zu lernen, um etwas zu erfahren, was ich nicht kenne, und eben vielleicht auch, um Leute kennenzulernen, die in der gleichen Situation wie ich sind und ihre eigenen Schlüsse ziehen. Darauf kam es mir an, die eigenen Schlüsse zu ziehen, schließlich wollte ich das selber, und mit der Zeit habe ich schon gemerkt, dass dieses Eigene-Schlüsse-Ziehen das eigentliche Problem ist. Denn sicher wurde von Heroenseite erwartet, dass eigene Schlüsse gar nicht erst gezogen werden, sondern dass in bereits vorgegebene Richtungen marschiert wird, und das habe ich nicht gemacht – nicht aus Heldentum, sondern weil ich einfach dafür nicht gemacht bin. Aus Unvermögen. Sagen wir es mal so, das kann man ja auch mal so sehen: Ich konnte nicht in Anhängerschaften ausbrechen, weil ich dafür nicht begabt bin. Ich kann nicht irgendjemands Anhänger sein, so habe ich das immer empfunden, oder irgendeiner Richtung angehören, ich muss es selber hervorbringen.“ (Wolfgang Rihm im Gespräch mit Jürgen Otten)
„Ich glaube, dass Darmstadt heute nach wie vor der Ort ist, wo sich junge Komponisten aus aller Welt treffen zum Erfahrungsaustausch, und eben nicht nur zum virtuellen Erfahrungsaustausch, den sie ja jederzeit zu Hause an ihrem Computer machen könnten, sondern dass sie eben mit den Menschen selber zusammen treffen und in Situationen hinein gestellt werden, wo ihre Stücke auch gespielt werden, das heißt: mit Interpreten arbeiten können. Nach wie vor ist es das größte Problem für junge Komponisten – ich rede jetzt als Lehrer einer Schule – das Aufführen, das Spielen, das in die Realität Übersetzen von Partituren ist nach wie vor das Schwierigste. Logistisch herzustellen und überhaupt zu ermöglichen. (…) In Darmstadt sind eben Interpreten, die es können, und warum sollte das etwas Anderes sein als früher: Junge Komponisten bringen ihre Projekte, ihre Arbeiten, stellen sie gegeneinander, stellen sie einander vor und erfahren sie im Ernstfall des Interpretiert-Werdens und können Interpretationen durchaus vergleichen. Das ist die Bedeutung von Darmstadt, nach wie vor. Alles andere sind Bedeutungen, die die Teilnehmer der Veranstaltung selbst geben, und es mag ja sein, dass in den 50er und 60er Jahren es sehr wichtig gewesen war, für die Veranstalter, das Gefühl zu haben. (…) Ich war bei der Veranstaltung, wo der Nabel meiner (kleinen) Welt ist, und wo mir mitgeteilt wird, wie ich mich darin zu bewegen habe. Die Bereitschaft, Führerschaft anzuerkennen, Leitung zu akzeptieren, und Befehle entgegen zu nehmen, war vielleicht in den 50er Jahren und in den 60er Jahren noch tiefer in die Menschen eingesenkt, als es in der Zeit, in der jetzt wir groß geworden sind oder dick, nämlich nach 68, gewesen sein konnte. Die Bereitschaft einer Führerschaft zu gehorchen. Und deswegen, diese ganzen Geschichten, die letztlich nichts anderes sagen als: Ja ja, das gab es schon Ansprüche auf Deutungshoheit, aber es gab eben auch viele, denen gedeutet werden sollte nach ihrem eigenen Willen, die es gerne gehabt haben, wenn man ihnen sagte: schau links, schau rechts, jetzt gerade aus, drei Schritt vor, jetzt zurück, hier ist der Fortschritt, weiter!“ (Wolfgang Rihm im Gespräch mit Jürgen Otten)