READER: AUTOSCHEDIASMS
27.07.2025

Tyshawn Sorey: Autoschediasms
Präsentation des Workshops mit Tyshawn Sorey und Kobe Van Cauwenberghe
Mit Teilnehmer:innen der Darmstädter Ferienkurse:
Łucja Chyrzyńska (Flöte)
Albane Tamagna (Flöte)
Lina Paschalia Digka (Flöte)
Maya Kaya (Oboe)
Ghazal Faghihi (Klarinette)
José Nisa (Saxophon)
Martina Madini (Saxophon)
Isaac Reed (Saxophon)
Kara LaMoure (Fagott)
Raegan Padula (Horn)
Yuval Adler (Trompete)
Kalun Leung (Posaune)
Fanny Meteier (Tuba)
Bernardo Cruz (Percussion)
Jonas Evenstad (Percussion)
Aditya Ryan Bhat (Percussion)
Marco Abisso (E-Gitarre )
Daniel Brew (E-Gitarre)
Kobe Van Cauwenberghe (Gitarre)
Emi See (Klavier)
Yuka Funabashi (Klavier)
Zach Layton (E-Piano)
Yona Su (Viola)
Ethan Chaves (Viola)
Carrie Frey (Viola)
Yifeng Yuan (Stimme)
Ryan Garvey (Stimme)
Sylvia Simons (Stimme)
Tyshawn Sorey (Musikalische Leitung)

INTERVIEW MIT TYSHAWN SOREY UND KOBE VAN CAUWENBERGHE
KL: Was ist Autoschediasms?
TS: Der Ursprung dieses Wortes ist griechisch und bedeutet „aus dem Stegreif“ oder „aus dem Ärmel schütteln“. Autoschediasms entstand aus der direkten Verwendung und als Ableitung von zwei besonderen Systemen der spontanten Komposition für große Ensembles, die mir von zwei für meine Entwicklung sehr wichtigen Mentoren beigebracht wurden. Das eine ist „Conduction“, die von Lawrence Butch Morris erfunden wurde und ein Lexikon visueller Hinweise ist, die der Dirigent oder die Dirigentin dem Ensemble gibt, damit es bestimmte Aktionen auf ihren Instrumenten durchzuführt und verschiedene Arten von Musik spielt. Das andere ist die „Language Music“ von Anthony Braxton, in der es zwölf Klangklassifizierungen gibt.
Für Autoschediasms habe ich beiden Vokabularen eine ganze Reihe neuer Konzepte und Fälle hinzugefügt. Am Anfang war es also eine Mischung aus diesen beiden Sprachen. Dann fügte ich eine Komponente hinzu, die ich „Kategorie“ nenne. Sie ist der komplexeste Teil dieser Sprache, weil man nicht nur eine Reihe von Parametern zur Verfügung hat (die mit Hilfe eines Whiteboards angegeben werden), sondern auch beschreibende Arten von musikalischem Verhalten, die sich auf andere Mitglieder des Ensembles beziehen können und den Spielern mehr Flexibilität bei der Erzeugung ihrer Inhalten geben. Darüber hinaus kann man auf dem Whiteboard auch Notationen sehen, wie z. B. tatsächliche Musiknotationen, die eine Reihe von Tonhöhen oder eine tonales Zentrum oder eine Reihe von Ereignissen angeben, welche mit bis zu vier Taktstöcken durchgeführt werden können. Autoschediasms ist also sowohl eine Bestätigung dieser beiden erwähnten Systeme als auch eine Ableitung von ihnen, und ich habe den beiden genannten Sprachen, so wie sie existieren, weitere Fälle hinzugefügt. Und so ist Autoschediasms zu einer eigenen Form der spontanen Komposition geworden.
KL: Sie haben dort also ein Whiteboard und können alle vier Taktstöcke gleichzeitig bedienen?
TS: Ja, das ist richtig. Es gibt ein Stichwort namens „Mixer“, das sich auf Gruppen beziehen kann – manchmal teile ich das Orchester in drei gleiche Gruppen auf, aber es kann auch bis zu drei oder mehr verschiedene musikalische Klangcharaktere oder Musiktypen geben. Die vier Taktstöcke können so eingesetzt werden, dass ein Taktstock anzeigt, welche Gruppe, ein anderer, welcher Klang und ein weiterer, welche Reihe von Aktionen gerade stattfinden soll: Manchmal können mehrere davon gleichzeitig oder unabhängig voneinander auftreten. Wenn ich das Stichwort „Mixer“ mit definierten Gruppen verwende, wird ein stereophoner Effekt erzielt, bei dem ein Klang durch die verschiedene Gruppen und den Raum wandert. Das ist nur ein Beispiel von mehreren, bei denen alle vier Stäbe zum Einsatz kommen, aber es gibt auch andere Fälle, in denen das passiert.
KL: Vielleicht können Sie ein wenig über Ihre Rolle als Dirigent und auch über die Beziehung zum Ensemble sprechen.
TS: Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass es nicht nur in einem Sinfonieorchester, sondern auch in einem kreativen Orchester Hierarchien gibt. Wenn man ein Musikstück interpretiert, hat man den Dirigenten oder die Dirigentin, der oder die im Grunde die Zeit, das Tempo, die Phrasierung, den Ausdruck und andere Aspekte der Musik bestimmt. Bei Autoschediasms ist das ähnlich, aber ich bringe nicht nur Ideen ein, sondern lasse auch verschiedene Dinge geschehen – es handelt sich nicht um eine Interpretation notierter Musik, sondern um eine Echtzeit-Kreation, die durch meine Anweisungen und meine Gestaltung der gesamten musikalischen Form geschaffen wird. Bei den Autoschediasmen gibt es sicherlich eine Hierarchie, bei der ich die Struktur oder Form im unmittelbaren Moment schaffe, während die Spieler die von mir vorgeschlagenen Inhalte liefern, um diese Form in Echtzeit zu schaffen. Bei der Aufführung dieser Musik gibt es daher eine große Verantwortung und Handlungsmacht: Jeder, auch der Dirigent oder die Dirigentin, ist für das Ergebnis der Komposition verantwortlich.
Wie ich während meiner Arbeit mit Morris und Braxton erlebt habe, ist es bei der „Conduction“ oder der „Language Music“ unerlässlich, dass die Interpret:innen alles befolgt, was der Komponist oder die Komponistin sagt, und das ist auch gut so. Bei Autoschediasms hingegen ist es eher ein demokratischer Prozess des Musizierens, bei dem sich die Leute im Ensemble zum Beispiel dafür entscheiden können, eine andere Art von Inhalt zu schaffen, der sich von dem unterscheidet, was ich beabsichtigt habe. Für mich sind das großartige Möglichkeiten: Als Komponist muss ich in der Lage sein, daraus Musik zu machen, anstatt dies als Fehler zu betrachten.
Allzu oft, wenn ich das zum ersten Mal mit Studierenden oder Teilnehmenden mache, haben alle Angst, Fehler zu machen. Dadurch geht das Potenzial, das sie haben, verloren. Das Vertrauen, neue Ideen zu entdecken und zu erforschen, ist nicht wirklich vorhanden, und die Musik leidet darunter sehr. Ich ziehe „stark und falsch“ vor, anstatt höflich zu sein und verkennen, dass jeder Ton einen Sinn hat. Ich versuche also, die Spieler:innen zu ermutigen, dass es zwar wichtig ist, allen Hinweisen, Gesten und anderen Dingen zu folgen, die ich während dieses Prozesses hineinbringe, aber wenn ein Fehler passiert, ist das in Ordnung. Das ist eine Gelegenheit, etwas Neues und Schönes aus diesem Fehler zu machen.
KL: Das wird auch durch diese Konzepte ermöglicht, die Sie in anderen Bereichen hinzugefügt haben?
TS: Auf jeden Fall. Es gibt viel mehr Flexibilität, was den Inhalt betrifft. Ich habe vorhin „Gruppen“ erwähnt, das ist ein weiteres Kategorie-Stichwort. Manchmal teile ich Spieler:innen selbst in Gruppen ein, aber für diese Version von Autoschediasms ziehe ich es vor, Einzelpersonen als Gruppenleiter:innen einzusetzen, die bestimmen, wer die anderen Mitglieder dieser Gruppe bei der Ausführung des Materials sein werden. Wenn die Musiker:innen anfangen zu spielen, tun sie das wirklich nur als Gruppe und nicht unbedingt als einzelne Solisten. Das unterscheidet sich von der Art und Weise, wie ich Einzelpersonen auffordere, ihre Ideen zu entwickeln.
KL: Es gibt interne Beziehungen, mit verschiedenen Ebenen von Abhängigkeiten, wodurch sich bestimmte Strukturen bilden. Trotzdem werden Sie als Autor der Autoschediasms-Stücke genannt.
TS: Ja, bei jedem Autoschediasm sehe ich mich als Komponist. Was ich mit den Musiker:innen mache, ist auf keinen Fall eine „Improvisation“. Autoschediasms ist Komposition. So wie eine Komponistin, die Musik notiert, sich ein großes Geschick und ein tiefes Verständnis für Harmonie, Form, Melodie und Rhythmus aneignen muss, so muss auch ich und jede:r Musiker:in, der:die in einem Autoschediasm auftritt, ein hohes Maß an Verständnis für diese musikalischen Aspekte haben. In der Conduction, der Soundpainting, Language Music und allen anderen Systemen, die dem ähnlich sind, bin ich immer der Komponist für diese Situationen, weil ich derjenige bin, der die Struktur erschafft, basierend auf meiner Vorstellungskraft und dem, was ich mit den zur Verfügung gestellten Inhalten mache, die durch meine Anweisungen entstehen. Wenn die Musiker:innen sich selbst überlassen wären, würde eine solche Aktivität nicht in der Weise stattfinden, wie ich sie höre. Dann wäre es auch nicht meine Musik. Ich forme und gestalte den Inhalt zu einer durchkomponierten, kohärenten musikalischen Form, während die Aufführung im unmittelbaren Moment stattfindet. Ich würde also sagen, das ist richtig.
KL: Kobe Van Cauwenberghe, Sie haben diesen Workshop in den letzten Tagen begleitet und geleitet. Was waren die Dinge, die Sie in diesen Tagen entwickelt und an denen Sie gearbeitet haben?
KC: Wie Tyshawn gerade erklärt hat, kamen der Inhalt und das Material aus seinem System, Autoschediasms. Bevor der Workshop begann, habe ich moderiert und organisiert, damit die Teilnehmer:innen wissen, was passiert. Während des Workshops habe ich einige Notizen gemacht, beobachtet und manchmal Vorschläge zum Klang im Raum eingebracht. Und seit gestern habe ich auch mein Instrument in die Hand genommen und mich dem Orchester angeschlossen, weil es einfach so viel Spaß macht, sie spielen zu sehen. Es ist eine Art des Musizierens, die ständiges Engagement, ständige Aufmerksamkeit von allen Spieler:innen erfordert.
KL: Der erste Schritt war wahrscheinlich, die Sprache zu lernen, sozusagen. Wie lange hat das gedauert?
KC: In der ersten Session haben wir tatsächlich ziemlich viel Zeit darauf verwendet. Tyshawn schlug vor, in Kleingruppen zu improvisieren, um sich gegenseitig kennen zu lernen. Denn diese Art von Arbeit ist auch ein sozialer Prozess: in der Lage zu sein, zu kommunizieren, sich gegenseitig wahrzunehmen – sich wohl und sicher zu fühlen. In einem solchen musikalischen Umfeld ist es sehr wichtig, dass sich jeder in gewisser Weise sicher fühlt.
Das funktionierte in dieser ersten Session wirklich gut, und dann fügte Tyshawn nach und nach immer mehr Stichworte und Teile des Systems hinzu. Und man konnte wirklich jeden Tag spüren, wie die Musiker:innen sich besser kennenlernten, wie die Resonanz wuchs und wie die Musik wuchs, und es entstand wirklich ein ziemlich starkes musikalisches Kollektiv. Es ist das erste Mal, dass diese Gruppe zusammenkommt, und das Ergebnis nach nur vier Probentagen ist wirklich bemerkenswert.
KL: Haben Sie während dieses Prozesses irgendwelche Schwierigkeiten bemerkt, auf die Sie gestoßen sind?
KC: Oh, sicher. Es ist ein ziemlich komplexes System mit vielen Informationsschichten. Es erfordert also ständige Konzentration und es gab viele Momente der Verwirrung. Aber das wurde immer durchs Spielen aufgelöst. Manchmal wiederholte Tyshawn einige der Stichwörter und wir gingen das Material noch einmal durch. Es wurde allmählich aufgebaut und es ist eine sehr starke Gruppe von Musiker:innen, die sehr begierig darauf waren, all diese Informationen aufzunehmen und wirklich sehr gut umsetzen konnten. Natürlich ist es ein Prozess, aber es hat wirklich sehr gut funktioniert.
KL: Tyshawn Sorey, wie haben Sie diesen Prozess erlebt, ein Kollektiv zu werden, sich gegenseitig kennenzulernen und vielleicht auch die Schwierigkeiten zu überwinden, schüchtern oder ängstlich zu sein? Wie würden Sie diesen Prozess beschreiben und wie haben Sie versucht, ihn zu gestalten?
TS: Ich würde es als sehr alltäglich beschreiben. Es ist eine soziale Musik, was auch immer das heißt. Es ist nicht nur eine soziale Aktivität, aber es ist wie im wirklichen Leben, wenn man sich mit anderen Menschen unterhält, die man nicht kennt oder denen man zum ersten Mal begegnet: Man findet einen Weg, sich zu verständigen, indem man anderen Menschen Raum zum Sprechen gibt, indem man anderen Menschen erlaubt, ihre musikalischen Gedanken respektvoll in einem Raum mitzuteilen, der dies zulässt.
Ich versuche, ein Umfeld zu schaffen, in dem die allgemeine Ästhetik eine der Gleichberechtigung ist. Aber natürlich sind die Persönlichkeiten sehr unterschiedlich. Als Dirigent muss ich mir also darüber im Klaren sein, dass wir zwar unterschiedliche Persönlichkeiten haben, aber ich möchte die besten Teile dieser Persönlichkeiten hervorheben, die am besten zur Geltung kommen und am meisten herausstechen. Meine Aufgabe ist es, eine Situation zu schaffen, in der alle Mitglieder des Ensembles die beste Version ihrer selbst sein können. Ich versuche, darauf zu achten, was jeder Einzelne kann, und mir auch bewusst zu machen, was er nicht kann. Und ich möchte die Stärken von allem, was sie können, herausholen, anstatt immer nur die Schwächen aufzuzeigen, denn damit ist niemandem wirklich gedient.
Fragen von Karl Ludwig