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READER: GROWING SIDEWAYS

06.08.2023

Brigitte Wilfing & Jorge Sánchez-Chiong: growing sideways. Choreografische Komposition in rückfälligen Verhaltensmustern (2021/23), Uraufführung

GROWING SIDEWAYS

Auf die Seite zu treten und sich vorwärts zu fühlen, seitwärts zu wachsen zwischen den Spuren des Vergangenen und vorausschauend rückzublicken auf  einen seitwärtswuchernden Vorschritt. Plötzlich haben wir die Zukunft im Nacken. Wie viele Schritte können wir zurücktreten? Werden wir mit einer Umarmung aufgefangen oder fallen wir in den Abgrund? Der Ausdruck von Entwicklung und Verbesserung durch das Bild des Fortschreitens, die Lokalisierung der Zukunft vor uns hat sich in unsere Körper geschrieben und  spiegelt sich in unserer Lebens- und Arbeitsweise wider. Der programmatische Titel lädt ein, dem westlichen Fortschrittsparadigma neue Richtungen des Wachstums hinzuzufügen und wird von den Performer:innen als choreografisch-kompositorische Handlungsanweisung wortwörtlich genommen. Spiel- und Bewegungsmodi werden rechts-links verdreht, umgekehrt verkehrt, um sich spielerischen   Umorientierungen, Rückverdrehungen und anderen Wildwüchsen hinzugeben. In growing sideways − ihrer dritten gemeinsamen Produktion – zeigen Brigitte Wilfing und Jorge Sánchez-Chiong mit ihrem Assemble andother stage eine weitere Form von Musiktheater in der Durchdringung von Choreografie und Komposition.

andother stage:
Jorge Sánchez-Chiong
(Komposition, Elektronik, Performance)
Brigitte Wilfing (Choreografie, Stimme, Performance)
Mirjam Klebel (Horn, Performance)
Alfredo Ovalles (Tasteninstrumente, Performance)
David Panzl (Percussion, Performance)

Jan Maria Lukas (Lichtdesign)
Florian Bogner (Sounddesign)

Trailer „Growing Sideways"
Jorge Sánchez-Chiong & Brigitte Wilfing

Nur mittels intensiven Austauschs lernen wir die Sprache des anderen Mediums und der anderen Künstler:innen verstehen. Erst dann kann sich etwas im eigenen Medium und im eigenen Denken transformieren, verschieben, was das Wesen von Transdisziplinarität ist. Übersetzungen von einem Medium ins andere sind eigentlich dann erst möglich.

Brigitte Wilfing

ANDOTHER STAGE – DAS ASSEMBLE

Künstlerisch und diskursiv an der Schnittstelle zwischen Musik, Choreografie, Performance und Neuen Medien forschend, entwickelt andother stage Programme, die eine transdisziplinäre  Auseinandersetzung, Präsentation und Vermittlung von Kunst anstreben und aktuelle politische und soziokulturelle Themen in den Mittelpunkt stellen.

In abendfüllenden Bühnenproduktionen wie Land of the Flats (Wien Modern 2019), growing sideways (Wien Modern 2021 / Darmstädter Ferienkurse 2023), oder When We Play (in Arbeit für Wien Modern 2023) bezeugt ein Rock- und Techno-Instrumentarium die Nähe zur Popkultur. Des Assembles forschender Zugang zur fortschreitenden Musiktechnologie deckt sich dabei mit der choreografischen Praxis, Instrumente selten in der üblichen Haltung zu spielen.

Das Assemble stellt nicht nur eine Nähe zum Ensemble und zur Musik her, sondern bezeichnet ein Gefüge von Menschen, Disziplinen, Medien, Instrumenten, Objekten und Diskursen und affirmiert andere Formen des Zusammenspiels – ein transdisziplinäres Arbeiten, das zwischen Hoch- und Subkultur, Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Körper und Klangerzeuger experimentiert.

Auf internationaler Ebene kooperiert es mit gleichgesinnten progressiven Ensembles, wie mit dem ukrainischen Kollektiv Opera Aperta (Kyiv) und dem New Yorker Mivos Stringquartet; gemeinsam mit dem Ensemble Phace entwickelte andother stage das Vermittlungsprojekt Upcycling Babylon (Kulturkatapult 2021), das neue Positionen der Kunst Lehrlingen mit Migrationshintergrund näher brachte.

E-Gitarren, Drums, Synthesizers, Turntables, Video Games und rappende Stimme sind Protagonisten der aktuellen, diskursorientierten Performance- und Konzertzyklen Me The People – Musik und Demokratie (MDW 2022–23) und Posthuman Social Club (in Planung für 2023–24).

JORGE SÁNCHEZ-CHIONG ÜBER DEN PLATTENSPIELER ALS INSTRUMENT

Nachdem ich von Caracas nach Wien gezogen bin, habe ich einige Jahre keine Turntables angefasst. Davor war ich von HipHop und später auch von Rave-Musik beeinflusst. In Wien habe ich in den 90er Jahren fast jedes einzelne Konzert von DIY und improvisierter Musik besucht und dabei viele verschiedene Verwendungen von Plattenspielern beobachtet. Ich war von vielen Künstler:innen aus der DIY-Szene umgeben, die mich sehr beeinflusst haben. Und es war ein Vergnügen, mit Joke Lanz und Dieb13 zu spielen, nur ein Jahr nachdem ich mit dem Turntablism angefangen hatte.

Als ich anfing, Turntables zu spielen, hatte ich gerade mein Kompositionsstudium abgeschlossen. Einige Kollegen ärgerten sich über den verrückten Kerl, der Turntables spielte – „was ist nur los mit dem?“ –, aber für einige andere war es sehr cool. Dabei ist es einfach, mit Plattenspielern cool zu sein in einer Szene, die ziemlich uncool ist! Aber es ging mir nicht darum, cool zu sein, auch nicht darum, frustriert zu sein, es ging einfach um Möglichkeiten. In den 90er Jahren gab es in Wien eine starke Bewegung von Leuten, die auf nicht-akademische Weise mit Elektronik arbeiteten. Ich, der ich zeitgenössische Musik und Kunst konsumierte, habe mich gefragt: Warum hat niemand von meiner Universität diese tollen Sachen gemacht? In dem Moment, als die Plattenspieler für mich zu einem Instrument wurden, ging es auch darum, Projekte zu schaffen, die über das Schreiben von Musik auf Papier hinausgehen, wo man Musiker oder ein Ensemble braucht und die Dinge sehr langsam und teuer werden können.

Jahrelang wurde ich als zeitgenössischer Komponist mit klassischem Hintergrund wahrgenommen aber plötzlich fühlte ich mich wie der Typ, der frisch aus dem Plattenladen seiner Eltern kam. Ich fühlte mich in diesem bürgerlichen Kulturtempel fehl am Platz, und so war der Plattenspieler sehr gut für mich, weil ich mit Leuten auf hohem Niveau, aber ohne Hierarchie arbeiten konnte – etwas, das mir im klassischen Umfeld fehlte.

Ich weiß nicht, ob ich die Person, die den Plattenspieler spielt, von der Person, die komponiert, trennen kann, auch wenn „beide“ mit unterschiedlichen Medien und einem unterschiedlichen Wissens- und Informationshintergrund arbeiten. Für mich war es ein sehr langer Weg, nach Europa zu kommen und ein zeitgenössischer, experimenteller Komponist zu werden; aber trotz aller Forschungsunternehmungen und akademischer Mühen vergesse ich am Ende des Tages nicht, dass ich im Plattenladen meiner kubanischen Eltern in Venezuela aufgewachsen bin. Eines Tages, lange nachdem ich mein Kompositionsstudium abgeschlossen hatte, fand ich mich einfach mit den Turntables zu Hause in Wien wieder.

Ich habe vielleicht eine kitschige Herangehensweise: Ich spiele mit vielen Platten von Freunden von mir. Aber hauptsächlich verwende ich viel persönliches Material, wie Aufnahmen aus meinen Stücken, eigene Veröffentlichungen und Musik oder Soundfragmente, die nur dafür gemacht sind, von den Plattenspielern manipuliert zu werden. Seit ich Serato verwende [eine Software, die digitale Sounddateien mit Hilfe einer Steuer-Vinylscheibe abspielt], ist das noch einfacher und auch reichhaltiger.

Es ist wichtig, offen für Überraschungen zu sein und zu interagieren. Wenn es zum Beispiel etwas anders klingt, als man es erwartet hat, sollte das nur eine Einladung zu den Möglichkeiten des Turntablism sein: Es kann dann zu dem werden, was man wirklich will, wenn man darauf reagiert, oder besser: mit ihm interagiert, es und seinen Kontext in Echtzeit verändert.

Kürzlich habe ich in einem Club improvisiert und ein betrunkener Typ kam zu mir und fragte: „Kennst du all diese Platten?“ Ich antwortete: „Natürlich, ich habe nur 20 bis 40 dabei. Das ist gar nichts.“ Aber wenn ich sie nicht kenne – was dann? Dieser Spielraum für Überraschungen ist das Wichtigste. Live zu spielen, damit man auf der Spur bleibt. Wenn ich nur meine Routine abspulen würde, käme ich mir vor wie ein Affe im Zirkus.

Ich denke, es geht auch darum, die sehr ungesunde Beziehung zum Musikmachen zu verändern, bei der es nur darum geht, zu scheitern oder Erfolg zu haben. Das ist eine altmodische Denkweise. Mit der KI werden wir uns sowieso verändern. Wir sollten uns mehr darauf konzentrieren, zu experimentieren und mit Dingen zu spielen.

Es gibt beim Turntablism diesen sportlichen Aspekt, diese Faszination für technische Fertigkeiten. Ich verstehe das, es ist auch irgendwie schön. Aber sich nur auf den technischen Teil zu konzentrieren, bedeutet, viele oder zumindest einige Dinge zu verleugnen. Für mich ist das Wichtigste an den Turntables, was man durch dieses Medium entdecken kann. Es ist etwas, das einem im Moment sehr viel eröffnet. Es ist eine ganz andere Art des Spielens, sehr einzigartig. Ich habe aus verschiedenen Gründen versucht, mit den Turntables aufzuhören. Aber es ist die einzige Droge, mit der ich nicht aufhören kann. Manchmal habe ich die sehr kindische Idee, wieder aufzuhören, aber eine Woche später spiele ich wieder. Und ich bin sehr glücklich damit.

© ️Markus Sepperer
© ️David Panzl
© ️Markus Sepperer
© ️Markus Sepperer
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© ️Matej Grgic
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