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READER: CORE

01.08.2025

Chaya CzernowinThe Divine Thawing of the Core (2024–25) – 60′
Uraufführung

Claire Chase (Kontrabassflöte)
Teilnehmer:innen der Darmstädter Ferienkurse
Vimbayi Kaziboni (Musikalische Leitung)

Claire Chase (Kontrabassflöte)

Teilnehmer:innen der Darmstädter Ferienkurse

Flöte:
Ksenija Franeta
Isabelle Meraner
Seraina Ramseier
Łucja Chyrzyńska
Paschalia Digka
Snir Kaduri

Oboe:
Nai-Hua Chuang
Martín Zulaika Diarte
Sergey Khodyrev
Maya Kaya
Eric Aragó Bishop
Ella Dorothea Delbrück

Trompete:
Monica Sanguedolce
Victor Vogel
Isaac Dubow
Jack Jones
Dmytro Zakaliuzhnyi
Paul Hübner (Gast / Guest)

Posaune:
Chloé Ryo

Tuba:
Fanny Meteier

Percussion:
Rita Sousa e Castro Couto Soares

Klavier:
Shiori Yoshino

Violoncello:
Elizabeth Kate Hall-Keough
Jung In Kim
Liam Battle

Vimbayi Kaziboni (Musikalische Leitung)

THE DIVINE THAWING OF THE CORE

The Divine Thawing of the Core entstand in enger Anlehnung an Galina Ustwolskajas 2. Sinfonie. Es wurde für Claire Chase geschrieben und ist ihr, die es vor einigen Jahren initiierte, gewidmet. Claire spielt als Solistin Kontrabassflöte mit einem Orchester, bestehend aus sechs Flöten, sechs Oboen, sechs Trompeten, Posaune, Tuba, Schlagzeug, Klavier und drei Celli. Das Stück wird im Juli 2025 während der Darmstädter Ferienkurse uraufgeführt, gefolgt von Aufführungen im August beim Time Spans Festival in New York City und im September beim Lucerne Festival. Es ist ein Auftragswerk dieser drei Festivals.

Ustwolskajas Werk war für mich schon immer äußerst wichtig. Ich bewundere den Mut darin, die Direktheit und vor allem die Fähigkeit, Klang und Form zu vereinen. Besonders wichtig ist mir die 2. Sinfonie, ein Werk, das man live erleben muss, damit es seine klangliche Leuchtkraft und Einzigartigkeit entfalten kann. Daher habe ich beschlossen, ein Werk in einer ähnlichen Besetzung wie die 2. Sinfonie zu schreiben, in der Hoffnung, dass Ustwolskajas Werk im selben Konzert gespielt werden könnte. The Divine Thawing of the Core kann jedoch auch allein gespielt werden. Über die Besetzung hinaus sind die beiden Stücke nicht weiter miteinander verbunden.

Die Kombination dieser Orchestrierung mit Claire Chases Kontrabassflöte war eine starke Orientierungshilfe. Es hat einen sehr einfachen, nackten, vielleicht intimer Beginn, der mit Ironie in eine elementare Brutalität zerfließt, in einem ungleichmäßigen Prozess (zu dem auch ein dämonischer Walzer gehört), in einem allmählichen Auftauen seiner Eigenschaften kommt es zu einer völlig anderen Ausdrucksweise, die kohärenter, zeremonieller und brutal primitiv ist.

Während ich das Stück schrieb, war ich in Barcelona und sah die Basilica Sagrada Familia. Der Anblick dieses seltsamen, knorrigen Bauwerks verdeutlichte mir die Struktur dieses Stücks. Es ist unregelmäßig zyklisch, die Wiederholungen erzeugen höhlenartige Korridore und seltsame zeitliche Illusionen im Verlauf.

Der Titel entstand durch die Beobachtung der politischen Entwicklungen in den schwierigen letzten Jahren – insbesondere des Wandels, den mein Heimatland Israel durchmacht. Es ist kaum zu glauben und erschütternd, die letzten zwei Jahre zu verfolgen – zu sehen, wie verschiedene Entwicklungen, die über viele Jahre unterschwellig vonstatten gegangen sind, und der 57 Jahre andauernde Zustand der Besatzung an die Oberfläche gekommen sind und die letzten Überreste einer Kultur, die noch Hoffnung auf Frieden und Empathie besaß, gewaltsam in die Dunkelheit der Grausamkeit und Brutalität schmelzen, bis hin zur ethnischen Säuberung der Palästinenser:innen unter dem Deckmantel der Religion. Dieses erzwungene Auftauen einer demokratischen Gesellschaft zu einer Theokratie unter dem Deckmantel der jüdischen Göttlichkeit (und Überlegenheit) ist für jeden Menschen, der an die Menschlichkeit glaubt, zutiefst schmerzhaft.

Das Stück ist aber kein politischer Beitrag. Es entspringt dem Schmerz; es versucht, einen Weg zu finden, das Unfassbare zu verarbeiten, um einen gewissen Verstand zu bewahren.

Chaya Czernowin

Das Radio Filharmonisch Orkest mit Reinbert de Leeuw als Pianist und Dirigent. Dmitry Lagatchiev als männlicher Rezitator.

CHAYA CZERNOWIN ÜBER GALINA USTWOLSKAJAS 2. SINFONIE

Das erste Mal, als ich die Zweite Sinfonie hörte, war das für mich etwas Besonderes. Das Stück hat eine verrückte Orchestrierung: sechs Flöten, sechs Oboen, sechs Trompeten und dann noch einige tiefere Instrumente. Mein neues Stück mit dem seltsamen Titel The Divine Thawing of the Core ist hinsichtlich der Orchestrierung sehr stark mit der Zweiten Sinfonie verwandt.

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Es hat mich wirklich sehr tief berührt, aber nicht im Sinne von Musik. Es berührte mich wie eine gelebte Erfahrung; als würde man gegeißelt oder verbrannt. Es war eine echte körperliche Erfahrung. Und ich wusste, dass dies ein wichtiges Stück für mich sein würde. 2018 war ich Kuratorin des „Fromm Concert“ an der Harvard University und habe dieses Stück programmiert. Wir hatten also Sechser-Gruppen plus Posaune, Tuba, Klavier und Schlagzeug. Jede:r im Saal hat gespürt, dass es sich dabei um keine uns bekannte Musik handelt. Ich hatte das Stück bereits auf YouTube gehört, aber als ich es dann live hörte, hatte es eine unglaublich starke Wirkung.

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Sie ist keine weibliche Komponistin. Sie ist männlicher als jeder männliche Komponist. Es gibt keine Weiblichkeit.

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Das Instrument spricht dessen Essenz aus. Die Oboe ist die beste Oboe, die sie sein kann. Ustwolskaja untergräbt die Instrumente nicht. Sie erweitert sie nicht. Nein, sie geht zurück zum eigentlichen Wesen dieses Instruments: Was ist das Besondere an diesem Instrument? Was ist die Oboe im Gegensatz zum Fagott, auch wenn beide Geschwister sind. Das spüre ich bei Ustwolskaja in Bezug auf Varèse: Varèse ist ständig auf der Suche. Es ist der Geist einer Suche. Und Ustwolskaja: Ist sie auf der Suche? Nein, das ist sie nicht. Sie spricht von einem Ort, an dem sie eher wie eine Prophetin agiert. Sie spricht vom Schicksal. Sucht ein Prophet nach den Worten, die er sagen soll? Der Prophet weiß es, in gewisser Weise. Ich muss sagen – und das nur als kleine Klammer –, dass dieser Aspekt für mich eine Distanz zu ihr schafft, denn manchmal macht mir ihr Absolutismus Angst.

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Es ist die Unbeteiligtheit des menschlichen Elements. Die Musik darf sie selbst sein, ohne dass der Komponist etwas beweisen oder etwas ausdrücken will, das direkt aus seiner persönlichen Menschlichkeit stammt. Es ist die Fähigkeit, eine geniale Fähigkeit, die der Komponist entwickeln kann, nicht in sein Material einzugreifen und das Material auf die beste und kohärenteste Weise durch sich selbst sprechen zu lassen. Und das ist für mich das, was Ustwolskaja und Feldman verbindet.

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Plötzlich spricht der Mensch durch die Oboe. Nein, es ist die Seele der Oboe, in den sechs, vier oder drei Oboen. Es muss wirklich diese Breite oder dieses Gewicht haben, damit sich das Instrument auf diese Weise ausdrücken kann. Sie öffnet ein riesiges Feld, in dem sie sich bewegen kann. Dieses Feld ist in der Lage, sie zu tragen, weil es weit geöffnet ist.

aus dem Gespräch zwischen Chaya Czernowin und Rebecca Saunders im Programmbuch der Darmstädter Ferienkurse 2025

Programmbuch Darmstadt 2025 (PDF, 5,1 MB)

© ️Chaya Czernowin