READER: MINOR CHARACTERS
09.08.2023
Matthew Shlomowitz & Jennifer Walshe: MINOR CHARACTERS
für Stimme und Ensemble (2022/23) – 50′
Uraufführung der vollständigen Fassung / Auftrag von Radio France, Klangspuren Schwaz, La Muse en Circuit und den Darmstädter Ferienkursen)
Jennifer Walshe (Stimme)
Ensemble Nikel:
Brain Archinal (Drums)
Yaron Deutsch (E-Gitarre)
Antoine Françoise (Keyboard)
Patrick Stadler (Saxophon)
Alfred Reiter (Sound)
Ragnar Árni Ólafsson (Übertitel und Live Cue)
MINOR CHARACTERS
Die ersten Hinweise von Jennifer Walshe und Matthew Shlomowitz zu ihrem in gemeinsamer Autorschaft entstehenden neuen Werk MINOR CHARACTERS klingen vielversprechend, kurios und auch ein wenig geheimnisvoll: MINOR CHARACTERS ist ein Liederzyklus für das 21. Jahrhundert, ein Chill-Metal-Bossanova-Vaporwave-ASMR-Kabarett, ein tiefes Eintauchen in Gewässer, die abwechselnd neonfarben und schlammig sind, transzendiert mit handfesten Skandalen, die sich nach Antworten sehnen, während wir erkennen, dass der Ruf aus dem Inneren des Hauses kommt.“
Nach ersten Try-outs bei Radio France im Frühjahr 2022 haben Walshe/Shlomowitz gemeinsam mit dem Ensemble Nikel, für das dieses Stück geschrieben ist, im vergangenen Herbst bei den Klangspuren in Tirol eine erweiterte Version präsentiert. In Darmstadt wird jetzt die vollständige, knapp einstündige Fassung zur Uraufführung gebracht. Wenn Jennifer Walshe und die vier Musiker von Nikel gemeinsam auf die Bühne kommen, weiß man: Es wird virtuos, rasant und massiv.
Mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung
Anne Montaron (Radio France) über Jennifer WalsheIn vielen ihrer Werke und Performances stellt Jennifer Walshe den Wahnsinn unserer modernen Gesellschaft dar, insbesondere unsere Abhängigkeit vom Internet und von sozialen Netzwerken. Das macht sie ohne allzu offensichtliche Ironie, vielmehr mit Humor. Der Titel „Minor Characters" ist eine Erfindung der Vokalistin. Er verweist auf eine Dimension unserer Realität, auf das hektische Treiben auf unseren Computern. Zudem ist er eine Anspielung auf die „Main Characters", die Hauptdarsteller:innen, die man in sozialen Netzwerken findet (Jennifer Walshe ist eine große Nutzerin des Internets und der sozialen Netzwerke). Die „Minor Characters" hingegen sind alles andere als Prominente oder Helden, wie sie das Internet hervorbringt. Jennifer Walshe skizziert hier humorvolle Porträts im Miniaturformat! Für diese kontrastreichen Stücke, die zwischen Humor, Kitsch und Sentimentalität schwanken, verwendet sie Texte, die sie im Internet und in sozialen Netzwerken sammelt und anschließend bearbeitet. Wer Kryptowährungen oder Verschwörungstheorien spannend findet, hat mit diesen „Minor Characters" genau das Richtige gefunden!
Jennifer Walshe über NikelMan könnte sagen, dass Nikel im Grunde nach Rock klingt - wegen Yarons E-Gitarre und Brians Schlagzeug. Matthew hat den Part für Brian in „Minor Characters" explizit für Schlagzeug geschrieben, was in der Musik, die Nikel spielt, nicht immer die Norm ist. Brian und Matthew teilen sich ihre Wurzeln in der Rock- und Punk-Kultur; sie haben diese Musik gespielt und bringen die entsprechenden spezifischen Gesten an Drums und Percussion mit. Das ist in der Band sehr präsent, für mich ist es sogar die Essenz von Nikel: Es ist fast eine Art Philosophie der Band.
Podcast: Nikel, Matthew Shlomowitz & Jennifer Walshe über „Minor Characters“
(30 min, Radio France, auf Französisch)
5 FRAGEN AN MATTHEW SHLOMOWITZ & JENNIFER WALSHE
Wer sind die „Minor Characters“?
Matthew Shlomowitz: Der Begriff „Minor Characters“ bezieht sich auf den der „Main Characters“, der vor ein paar Jahren bei Twitter aufkam. Damit ist das Phänomen gemeint, wenn der Tweet einer unbekannten Person unerwartet viral ging.
Jennifer Walshe: Viele Leute, vor allem auf Twitter – ich will jetzt nicht „X“ dazu sagen – reden davon, jeden Tag ein „Main Character“ des Internets zu sein. Ich interessiere mich aber eher für die Nebenfiguren im Internet, das heißt: für uns alle, die wir unser Leben über das Internet führen, unser Leben teilweise online leben müssen, und was das für uns alle bedeutet.
Jennifer, wie bewegst du dich durchs Internet?
JW: Ich denke, genau so wie alle anderen auch. Wir sind heute dazu gezwungen, einen großen Teil unseres Lebens im Internet zu verbringen. Ich will es untersuchen, seine Struktur betrachten. Anstatt es als etwas zu begreifen, das vom Leben abgekoppelt ist, in das wir uns zurückziehen und alles andere ausschalten, frage ich: Woraus besteht das Internet wirklich? Manchmal sage ich meinen Studierenden: Öffnet eine beliebige Website und seht sie euch an.
Wahrscheinlich seht ihr erstmal den Inhalt, z.B. wenn ihr auf die Seite des Guardian geht. Aber dann ist da auch all die Werbung, all der Kram, der euch bedienen möchte. Es gibt so viele Inhalte im Internet, denen wir keine Beachtung schenken. Bei einem Waldspaziergang achten wir doch auch auf die Pilze am Boden und die Vögel im Baum – so sollten wir auch durchs Internet gehen.
Wie entstand der Text für „Minor Characters“?
JW: Ich arbeite mit vielen verschiedenen Text-Archiven. Ich sammle und schreibe viele Texte. So wie eine DJ durch ihre Platten kramt, um spannende Tracks zu finden, habe ich mein Archiv durchsucht. Als ich angefangen habe, bestimmte Parts zusammen zu fügen, entstand eine Art Story, eine Dramaturgie. Um diese zu stärken, habe ich dann neue Texte geschrieben und hinzugefügt, und so weiter.
Wie habt ihr mit Nikel zusammen gearbeitet?
MS: Wir haben in den letzten zwei Jahren in verschiedenen Phasen an dem Stück gearbeitet. Nikel hat es vergoldet. „Minor Characters“ hat nicht viel Partitur – aber selbst dort, wo es ausgeschrieben ist, haben sie es mit einer Menge Farben, Details und Entscheidungen angereichert. Ihren Beitrag kann man nicht hoch genug ein schätzen.
Eure Zusammenarbeit begann im Frühjahr 2022 bei einer Residency von Radio France. Was ist seitdem geschehen?
MS: Im Grunde gab es drei Schaffensphasen. In der ersten Phase haben wir den Auftrag von Radio France bekommen, innerhalb einer Woche jeden Tag ein zweiminütiges Stück zu schreiben. Da haben wir fünf kleine Songs geschrieben. Danach haben wir es auf ein neues Level gehoben, eine 23-minütige Fassung entwickelt und 2022 beim Klangspuren-Festival in Innsbruck aufgeführt. Jetzt sind wir in der dritten und letzten Phase, in der wir „Minor Characters“ auf fast eine Stunde ausgedehnt haben.