READER: RESONANCES I
11.08.2023
Wukir Suryadi: „Madep Manteb“ (2023) Uraufführung – 20′
Diego Ramos Rodríguez (Arrangement)
Anahita Abbasi: „Situation XII – in our dwelling, we reside“ (2023) Uraufführung – 25′
Yiran Zhao: „fictional nonfiction“ (2023) Uraufführung – 30′
für 12 Musiker:innen, Video und Elektronik
Wukir Suryadi (Industrial Mutant, Gema Delay Synt Senyawa, Toraja Comb & Hat)
Ensemble Modern
Ilan Volkov (Musikalische Leitung)
Ein Kooperationsprojekt von Ensemble Modern und dem Internationalen Musikinstitut
Darmstadt (IMD) unter Mitwirkung von Ilan Volkov
Gefördert durch die Beauftragte der
Bundesregierung für Kultur und Medien. Mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens
Musikstiftung sowie der Ensemble Modern Patronatsgesellschaft e. V.
Dietmar Wiesner (Flöte)
Christian Hommel (Oboe)
Hugo Queirós (Klarinette)
Olivia Palmer-Baker (Fagott)
Saar Berger (Horn)
Mathilde Conley (Trompete)
Uwe Dierksen (Posaune)
Jack Adler-McKean (Tuba)
Ueli Wiget (Klavier)
Hermann Kretzschmar (Klavier)
David Haller (Schlagzeug)
Rainer Römer (Schlagzeug)
Stefan Hussong (Akkordeon)
Jagdish Mistry (Violine)
Giorgos Panagiotidis (Violine)
Megumi Kasakawa (Viola)
Eva Böcker (Violoncello)
Esther Saladin (Violoncello)
Paul Cannon (Kontrabass)
Ilan Volkov (Musikalische Leitung)
Norbert Ommer (Klangregie)
Lukas Nowok (Tontechnik)
SITUATION XII – IN OUR DWELLING, WE RESIDE
Dieses Stück ist das XII. des Situations-Zyklus.
Situation – Definition:
📖 eine Reihe von Umständen, in denen man sich befindet
📖 ein Zustand; die Art und Weise, in der etwas in Beziehung zu seiner Umgebung gesetzt wird
📖 relative Position oder Kombination von Ereignissen und Bedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt
Behausung – Definition:
📖 ein Ort/eine Unterkunft (z. B. ein Haus), in dem/der sich Menschen aufhalten
📖 eine Struktur, in der eine Person lebt und schläft
Beispiele:
📖 ein Einfamilienhaus/Mehrfamilienhaus
📖 die ständige/vorübergehende Wohnung von jemandem
📖 die Errichtung eines einstöckigen Wohnhauses
Über etwas nachdenken:
📖 die meiste Zeit über etwas nachdenken oder sprechen, daran hängen bleiben … darin verweilen
📖… „Ein ökologischer Ansatz konzentriert sich auf die Beziehungen des Individuums mit bedeutsamen Merkmalen der Umwelt; er betont die Intentionalität der Handlungen des Individuums. Die Wechselseitigkeit von Umwelt und Individuum ist ein zentrales Merkmal eines ökologischen Ansatzes. Eine Wohnung ist der primäre Anker des Individuums in der Umwelt. Sie kann viele Funktionen erfüllen, wie etwa Schutz, Privatsphäre, Sicherheit, Kontrolle und Status. Aus ökologischer Sicht liegt die Bedeutung von Behausungen in diesen funktionalen Beziehungen zwischen Menschen und ihren Behausungen … „
(The Meaning of Dwellings: an Ecological Perspective by Henny Coolen)
Verweildauer – Beispiele:
Im Dienst:
📖 Die Verweildauer soll den Soldaten eine geistige und körperliche Pause vom Kampf ermöglichen und ihnen Zeit mit ihren Familien geben.
📖 Die Verweildauer variiert je nach Material und Größe der Indikationen, die identifiziert werden sollen.
In Zügen:
📖 als Erholungszeit auf der Strecke dienen und die Zuverlässigkeit verbessern
Hausen – Definition:
📖 an einem Ort wohnen, sein Zuhause haben oder sich dort aufhalten
📖 seinen ständigen Wohnsitz an einem bestimmten Ort haben
Anahita Abbasi
WUKIR SURYADI ÜBER „MANDEP MANTEB“
INSTRUMENTE VON WALTER SMETAK
INSTRUMENTARIUM WUKIR SURYADI
YIRAN ZHAO ÜBER „FICTIONAL NONFICTION“
Jeder hat seine eigenen Erfahrungen
Zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre, vierzig Jahre
Wir haben jeden Tag andere Träume
Jeden Tag erleben wir andere Realitäten
Jeden Tag sind wir in verschiedene Ereignisse verwickelt
Alle unsere Erfahrungen werden in einer Flut von Informationen ertränkt
Wenn die Erinnerung verblasst, verschwindet sie langsam
Wie die körnigen Pixel eines alten Fotos, das nicht mehr verfeinert werden kann
Sie werden zu einem Mosaik des Lebens
Wie eine verwitterte alte Stadt in der Wüste
Sie verwandelt sich in ein Staubkorn im Sandmeer
Und alles, was wir tun können, ist nach vorne zu schauen
Eines Tages wird unsere Geschichte zusammen mit anderen Geschichten als ein Tropfen Tinte in den Geschichtsbüchern stehen.
In Tausenden von Jahren wird vielleicht jemand ein Buch im Archiv aufschlagen.
Unsere Geschichte wird ein Wort darin sein.
每个人都有自己不同的经历
十年 二十年 三十年 四十年
我们每天做着不同的梦
我们每天经历着不同的现实
我们每天交织在不同的事件中
所有的经历又淹没在信息之海
随着记忆衰退慢慢消失
像老照片看不清的低像素
变成生命中的一颗马赛克
像荒漠中风化的古城
变成沙海里的一粒尘
而我们能做的只有向前看
终有一日我们的历史将与其他历史一同汇成一滴墨 载入史册
千年后 也许会有人翻开档案馆的一本书
我们的故事便成了其中的只言片语
Yiran Zhao>/em>
Verwendete Archivfotos in „fictional nonfiction“:
Andreas Etter: David Haller, Giorgos Panagiotidis
Barbara Fahle: Rainer Römer, Uwe Dierksen
Barbara Geis: Uwe Dierksen
Barbara Klemm: Dietmar Wiesner
Ingeborg Knigge: Eva Böcker, Rainer Römer
Stevie J. Sutanto: Megumi Kasakawa
Manu Theobald: Hermann Kretzschmar
Hanspeter Trefzer: Christian Hommel
Archiv Ensemble Modern: Jaan Bossier, Paul Cannon, Giorgos Panagiotidis,
Christian Hommel, Hermann Kretzschmar, Norbert Ommer, Johannes
Schwarz, Dietmar Wiesner
ARCHITEKTEN IM GEDÄCHTNISPALAST
von Leonie Reineke
Archive sind Gedächtnispaläste, die über lange Zeiträume erbaut wurden. Sie entlasten die Speicher in unseren Köpfen und bereichern unser gemeinsames Wissen. Sie formen die Geschichtsschreibung, sie lassen Bilder und Narrative entstehen. Und sie sind Instrumente, um zu entscheiden, was überhaupt in Erinnerung bleibt. Eine Erkundung der vielen Räume, Gänge, Kammern und Nischen in einem solchen Palast – als gezielte Recherche oder bloßes Stöbern – kann faszinierende Erkenntnisse liefern. Manchmal treten Fundstücke zutage, die längst in Vergessenheit geraten und jahrzehntelang unentdeckt geblieben sind. Manchmal werden subtile Zusammenhänge geschichtlicher Ereignisse sichtbar oder es bilden sich ungewöhnliche, vielleicht sogar abwegige Lesarten des historischen Materials heraus. So wird der Gedächtnispalast schnell zum Kreativbüro für Neues. Und plötzlich ist das Archiv nicht mehr nur abgeschlossene Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft – besonders dann, wenn der Zugriff kein wissenschaftlich motivierter ist, sondern ein dezidiert künstlerischer.
Zufallsfunde, unsystematisches Suchen, assoziatives Sammeln, vom Hundertsten ins Tausendste gelangen – derartige Ansätze sind willkommen, wenn es um die Eigengesetzlichkeit ästhetischer Praxis geht. Und so sind die Komponist:innen des Projekts „Funkensprünge“ vorgegangen – eine Initiative, die mit der Erschließung und Digitalisierung des Archivs des Ensemble Modern einhergeht. Schätze aus über 40 Jahren Ensemblegeschichte dienten den Künstler:innen als Inspirationsquelle für neue Werke. Anahita Abbasi, Anda Kryeziu, Wukir Suryadi und Yiran Zhao ließen vier Arbeiten für die Bühne entstehen: Kompositionen, die im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse im Sommer 2023 ihre Uraufführung erleben. Stefan Pohlit und Daniel Hensel schufen Radiostücke im Auftrag von hr2-kultur. Vorgegeben war dabei weder eine Stoßrichtung für die Recherche noch ein spezielles Aufführungsformat, weder eine Kompositionsweise noch die Ensemblegröße. Entstanden sind dementsprechend sechs völlig unterschiedliche Werke, die alle auf den gleichen Möglichkeitshorizont zurückgehen. Wo Musikschaffende in der Regel Entscheidungen über Tonhöhen, Dynamiken, Tempi und Spielweisen treffen, ging es hier zunächst um die Frage, aus welchen Archivalien sich das gedanklich-kompositorische Material generiert. Ob Fotos, Partituren, Programmhefte, Audiokassetten, Reiseprotokolle, Briefwechsel mit Größen der Musikgeschichte oder andere handschriftliche Notizen – der gesamte Materialfundus stand den Komponist:innen offen, um davon ausgehend mit Mitgliedern des Ensemble Modern neue Stücke zu erarbeiten.
Eine Archivrecherche als Ausgangspunkt fürs Komponieren ist das Gegenteil eines unbeschriebenen Notenblatts. Ideen werden nicht in die Leere hinein entwickelt, sondern aus einer Fülle von Informationen und Impressionen „herausgeschnitten“ – eine Arbeit, die dem subtraktiven Vorgehen eines Bildhauers ähnelt. Diesen Vergleich zieht auch die gebürtige Iranerin Anahita Abbasi mit Blick auf ihr Ensemblestück „Situation XII – in our dwelling, we reside“. Der erste Schritt ihrer Arbeit war eine Sichtung von Bestandslisten des komplexen EM-Archivs, woraufhin sie einzelne Partituren, Texte und Aufnahmen für ein genaueres Studium ausgewählt hat. „In dem Zuge“, so die Komponistin, „bin ich auf die Zusammenarbeit des Ensembles mit Frank Zappa gestoßen. Ursprünglich hatte ich gar nicht vor, dieses Kapitel der Ensemblegeschichte zu erkunden, aber der Flüchtige Blick in eine Partitur hat dann doch meine Neugier entfacht und ich habe mich näher damit beschäftigt.
Genau so arbeite ich auch generell: Ich bin immer ‚ganz Ohr‘ und offen für alles, was ich wahrnehme.“ Die Materialien, die Abbasi entdeckt hat, tragen Erinnerungen und ein semantisches, vielleicht auch assoziatives Potenzial in sich. All diese Eigenschaften untersucht sie wie eine Wissenschaftlerin, um dann aus den Funden etwas Neues zu formen – „wie eine Architektin, die alle Teile zur Verfügung hat und damit etwas baut“, sagt sie.
Nicht nur die große Vielfalt der über 40 Jahre gesammelten Bestände, auch die Lücken und blinden Flecken des Archivs manifestieren sich im neuen Werk für 12 Musiker:innen, Video und Elektronik von Yiran Zhao. Die im chinesischen Qingdao geborene Komponistin hat ihren Blick bei der Recherche einerseits auf Fotos der Ensemblemitglieder und die darauf sichtbaren Details gerichtet. Andererseits hat sie sich mit all jenen Eigenschaften der Musiker:innenpersönlichkeiten befasst, die nicht im Archiv zu finden sind: versteckte Charaktermerkmale, Gebärden, Variationen in der Mimik, Tonfall beim Sprechen, persönliche Stimmungen und Gesprächsatmosphären. Diese Aspekte hat Zhao in eigenen Interviews mit den Musiker:innen des Ensembles beobachtet und darauf basierend einen Materialpool angelegt. „In unseren Interviews“, so die Komponistin, „haben wir über alles Mögliche gesprochen – von persönlichen Erinnerungen und normalen Alltagserfahrungen bis hin zu frei erfundenen Erzählungen. Diese Geschichtensammlung bildet die Basis für mein Stück: eine Mischung aus logischen und unlogischen Erzählsträngen, aus Realität und Fake.“
Ein weiterer Teil dieses dokufiktionalen Stücks ist Yiran Zhaos gedankliches Privatarchiv. So nimmt sie etwa Bezug auf die Arbeit „The Second State“ des chinesischen Konzeptkünstlers Geng Jianyi – eine Serie von vier großen Ölgemälden, die das Gesicht eines Mannes in verschiedenen Momenten des Lachens zeigen. „Diese riesigen Gesichter sind enorm ausdrucksvoll“, sagt Zhao. „Mit ihnen im Hinterkopf habe ich die Interviews mit den Ensemblemusiker:innen geführt. Ich wollte wissen, ob ich in der Gesprächssituation besondere Gesichtsausdrücke, Gemütslagen und spezielle Seiten ihres Charakters entdecken
kann, die mir das offizielle Archiv nicht offenbart.“
[…]
Installative Arbeiten spielen […] für den in Indonesien geborenen Wukir Suryadi eine [wichtige] Rolle. Seine künstlerischen Konzepte schließen mitunter selbst entwickelte Musikinstrumente ein, die ebenso Klangerzeuger wie Skulpturen sind. Aus diesem Grund interessierte Suryadi ein Projekt des Ensemble Modern, das sich 2016/17 der Wiederentdeckung des Komponisten und Musikers Walter Smetak gewidmet hat – ein schweizerisch-brasilianischer Künstler, der Hunderte von Instrumenten erfunden und gebaut hat, von Varianten europäischer Streichinstrumente bis hin zu rätselhaft esoterischen Plastiken. „Es reizt mich“, so Suryadi, „herauszufinden, welche unerwarteten Ergebnisse die Kombination dieser bizarren Klangerzeuger mit konventionellen Instrumenten liefern kann.“ Für sein Stück „Madep Manteb“ richtete der Komponist seinen Blick auch auf die Zeitspanne des über 40-jährigen Bestehens des Ensemble Modern. Diese Spanne interpretierte er mit einem Modell aus Zahlenproportionen des javanischen Kalenders. Entstanden ist eine dreiteilige Komposition, die in eine Phase der Jugend, den folgenden Reifeprozess und schließlich den Übergang ins Alter unterteilt ist.
Dass hier der Werdegang eines Ensembles als „Lebensgeschichte“ gelesen wird, zeigt einmal mehr, wie frei die Komponist:innen mit dem Archiv des Ensemble Modern als Materiallieferanten umgegangen sind. Und genau dafür steht das Projekt „Funkensprünge“: Es geht in den Auftragskompositionen nicht um eine Geschichtsaufarbeitung, erst recht nicht um Ehrerbietung oder Verbeugung vor dem Ensemble Modern. Sondern es geht um den Blick einzelner Individuen nach vorn – selbst dann, wenn alles mit einem Blick zurück begonnen hat.
Vollständiger Text "Architekten im Gedächtnispalast" (S. 108)