READER: RESONANCES II
12.08.2023
Anda Kryeziu: TILDE [~] (2023, UA)
Konzertinstallation mit dem Ensemble Modern
Ein Kooperationsprojekt von Ensemble Modern und dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt (IMD).
Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung sowie der Ensemble Modern Patronatsgesellschaft e. V.
Hugo Queirós (Kontrabassklarinette)
Olivia Palmer-Baker (Kontraforte)
David Haller (Schlagzeug)
Rainer Römer (Schlagzeug)
Steffen Ahrens (Elektrische Gitarre)
Alexey Potapov (Elektrische Gitarre)
Jagdish Mistry (E-Violine)
Paul Cannon (E-Kontrabass)
Lukas Nowok (Klangregie)
INTERVIEW MIT ANDA KRYEZIU ZU „TILDE [~]“
Von all dem Material im Archiv des Ensemble Modern hast du dich insbesondere für Reiseberichte aus der DDR und der Sowjetunion in den 1980er Jahren interessiert. Was fandest du daran spannend?
Ich wollte schauen, was ich durch die Ensemble Modern-Archive über Geschichte und Zeitgeist lernen kann. Was erzählen die Archive darüber, was in der Gesellschaft passiert ist? Ich habe nach entscheidenden, oder auch „problematischen“ Jahren gesucht, die einen politischen und historischen Umwälzungspunkt markieren. Da bin ich bei den Jahren 1989/90 gelandet. Hier veranschaulichen die Archive mit welchem Narrativ man den gesellschaftlichen Wandel damals erzählt hat. Der Reisebericht von der DDR-Reise verweist auf scheinbare Nebensächlichkeiten, die wir heute als selbstverständlich wahrnehmen – natürlich je nachdem, wo wir leben und woher wir kommen, ich spreche von Freiheit, auch im Bezug auf Reisen. Die Archive erzählen viel über politische Schwierigkeiten, auch im kulturellen Bereich.
Konntest du diese gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen auch in der Musik wiederfinden?
Nein, leider nicht. Vielleicht erwarte ich zu viel von der Musik oder von Komponist:innen. Aber natürlich war mein Blickwinkel auch sehr eng. Die Archive selbst sind ein enger Rahmen, weil es ja nur Dokumente sind, die von einer Person ausgewählt und aufbewahrt wurden, damit sie gewissermaßen überleben. Es gab aber auch Dinge im Archiv, die ich sehr spannend fand, die ich aber ausgelassen habe, weil ich darauf einfach nicht vorbereitet war.
Eine bestimmte Passage aus dem Bericht von DDR-Reise hat dich besonders gefangen. Darin geht es um einen Konflikt über die Bedeutung des Begriffs „Deutsch“.
Ja, 1987 war das Ensemble Modern für ein Gastspiel in Ostberlin. Sie hatten ihr eigenes Programmheft gedruckt, so war es offenbar mit dem Veranstalter aus der DDR vereinbart. Am Ende durften sie dieses aber nicht verwenden, weil sie Formulierungen wie „deutsches Ensemble“ oder „führender deutscher Komponist“ enthielten. Selbst Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ wurde problematisiert. Heute selbstverständliche Dinge waren damals ein Problem, das sich in einem Programmheft widerspiegelt – dem Artefakt, das uns heute von diesen Narrativen erzählt.
Das ist interessant, denn unser Gespräch wird auch in einem Programmheft landen, einem digitalen aus dem Jahr 2023.
Wir leben in einer Zeit des Überflusses an digitalem Material. Ich habe das Gefühl, die Archive waren früher fokussierter und gepflegter. Man konnte sehen, dass viel Arbeit in jedes Dokument und in jedes Foto gesteckt wurde. Über diesen Datenstrom von heute spreche ich im Video-Part meines Stücks. Im digitalen Zeitalter sind wir alle Archivar:innen. Es gibt Zettabytes an Daten, die jeden Tag aus uns heraus fließen und von uns erzählen.
Hast du dem Archiv des Ensemble Modern auch etwas hinzugefügt, vielleicht sogar etwas Persönliches?
Es gibt einige Teile von mir in diesem Stück, aber nicht als Archive, eher als Kommentare über mich selbst. Es gibt auch eine Metaebene, in der ich meinen eigenen Kompositionsprozess über Archive archiviere. Ein Text im Video dokumentiert meinen Bewusstseinsstrom während des Kompositionsprozesses. Während der Arbeit mit dem Archiv bin ich auf verschiedene Gedanken gekommen und habe dann versucht, mich dem Prozess meiner eigenen Erinnerungen zu nähern und wieder von ihnen weg zu navigieren. Ich habe auch einige wichtige oder schwierige Momente meines Lebens berücksichtigt, aber ich erzähle sie nicht vollständig. Ich kommentiere nur, wie ich zu diesen Erinnerungen gekommen bin.
Was hat es mit dem Titel „Tilde“ auf sich?
Für mich ist das der Kern des Stücks. Er bezieht sich auf die Frage, warum wir Archive aufbewahren. Die „Tilde“ ist für mich ein Symbol. Sie sieht wie eine Sinuskurve aus. Und was machen wir den ganzen Tag? Musik. Musik ist letztlich Luft, gefiltert durch unsere Ohren, aufgezeichnet in unserem Gehirn, und dort als Erinnerung archiviert. Wir archivieren, weil wir versuchen, den Moment festzuhalten. In dem Stück spiele ich einen Bass über den Subwoofer, einen Sinuston von 7 Hertz, der einige Muster im Wasser erzeugt. Das wiederum habe ich versucht, in meiner Erinnerung zu behalten. Die Tilde ist auch das Symbol für elektrostatischen Strom. Bei 0,07 Volt zwischen den Neuronen werden Erinnerungen in den Synapsen geschaffen.
Fragen: Friedemann Dupelius
ARCHITEKTEN IM GEDÄCHTNISPALAST
von Leonie Reineke
Archive sind Gedächtnispaläste, die über lange Zeiträume erbaut wurden. Sie entlasten die Speicher in unseren Köpfen und bereichern unser gemeinsames Wissen. Sie formen die Geschichtsschreibung, sie lassen Bilder und Narrative entstehen. Und sie sind Instrumente, um zu entscheiden, was überhaupt in Erinnerung bleibt. Eine Erkundung der vielen Räume, Gänge, Kammern und Nischen in einem solchen Palast – als gezielte Recherche oder bloßes Stöbern – kann faszinierende Erkenntnisse liefern. Manchmal treten Fundstücke zutage, die längst in Vergessenheit geraten und jahrzehntelang unentdeckt geblieben sind. Manchmal werden subtile Zusammenhänge geschichtlicher Ereignisse sichtbar oder es bilden sich ungewöhnliche, vielleicht sogar abwegige Lesarten des historischen Materials heraus. So wird der Gedächtnispalast schnell zum Kreativbüro für Neues. Und plötzlich ist das Archiv nicht mehr nur abgeschlossene Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft – besonders dann, wenn der Zugriff kein wissenschaftlich motivierter ist, sondern ein dezidiert künstlerischer.
Zufallsfunde, unsystematisches Suchen, assoziatives Sammeln, vom Hundertsten ins Tausendste gelangen – derartige Ansätze sind willkommen, wenn es um die Eigengesetzlichkeit ästhetischer Praxis geht. Und so sind die Komponist:innen des Projekts „Funkensprünge“ vorgegangen – eine Initiative, die mit der Erschließung und Digitalisierung des Archivs des Ensemble Modern einhergeht. Schätze aus über 40 Jahren Ensemblegeschichte dienten den Künstler:innen als Inspirationsquelle für neue Werke. Anahita Abbasi, Anda Kryeziu, Wukir Suryadi und Yiran Zhao ließen vier Arbeiten für die Bühne entstehen: Kompositionen, die im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse im Sommer 2023 ihre Uraufführung erleben. Stefan Pohlit und Daniel Hensel schufen Radiostücke im Auftrag von hr2-kultur. Vorgegeben war dabei weder eine Stoßrichtung für die Recherche noch ein spezielles Aufführungsformat, weder eine Kompositionsweise noch die Ensemblegröße. Entstanden sind dementsprechend sechs völlig unterschiedliche Werke, die alle auf den gleichen Möglichkeitshorizont zurückgehen. Wo Musikschaffende in der Regel Entscheidungen über Tonhöhen, Dynamiken, Tempi und Spielweisen treffen, ging es hier zunächst um die Frage, aus welchen Archivalien sich das gedanklich-kompositorische Material generiert. Ob Fotos, Partituren, Programmhefte, Audiokassetten, Reiseprotokolle, Briefwechsel mit Größen der Musikgeschichte oder andere handschriftliche Notizen – der gesamte Materialfundus stand den Komponist:innen offen, um davon ausgehend mit Mitgliedern des Ensemble Modern neue Stücke zu erarbeiten.
[…]
Eine Verschränkung persönlicher, teils autobiografischer Aspekte mit Materialien aus dem Archiv des Ensemble Modern kommt auch in Anda Kryezius neuem Ensemblestück zum Tragen. Vor ihrem Musikstudium in der Schweiz und Deutschland hat die in den 1990er Jahren im Kosovo aufgewachsene Komponistin Krieg, Flucht und Migration erlebt – eine gänzlich andere Geschichtserfahrung als die des Ensemble Modern zur gleichen Zeit. „Durch meine persönliche Geschichte“, so Kryeziu, „schaue ich durch eine ganz bestimmte Linse auf die Vergangenheit. Und das ist es auch, was mich an Archiven interessiert. Sie sind Instrumente, um ganze Narrative zu konstruieren, zu dekonstruieren, zu vergessen oder sogar zu verdrängen – je nachdem, wer die Archive kontrolliert. Insofern war es für mich ein besonderes Erlebnis, mit meinem persönlichen Blick an das Archiv des Ensemble Modern heranzugehen. Denn ihre Aktivitäten über diese vier Jahrzehnte haben sich parallel zu großen politischen Umbrüchen abgespielt.“ So hat sich Kryeziu bei ihrer Archivrecherche insbesondere auf eine Tournee durch die damalige Sowjetunion im Februar 1990 sowie auf Konzerte in der DDR in den späten 1980er Jahren fokussiert. Denn an den Reiseberichten aus dieser Zeit lassen sich die politischen Verhältnisse meist genau ablesen. Diese Materialien, kombiniert mit persönlichen Erinnerungen der Ensemblemusiker:innen, fließen in Kryezius Stück ein – eine Performance-Installation, die neben klanglichen auch räumliche Aspekte umfasst.
Whole text "Architects in the Palace of Memory" (p. 104) (PDF, 5,1 MB)