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READER: TOGETHER

17.08.2023

Claire Chase

Olga Neuwirth: „Magic Flu-idity“ (2019) – 14’
für Flöte und Schreibmaschine

Anna Thorvaldsdottir: „Ubique“ (2023) – 6’
für Flöte, Klavier, zwei Celli und Elektronik (Ausschnitt)

Matana Roberts: „Auricular Hearsay“ (2021) – 10’
für offenes Ensemble

Du Yun: „An Empty Garlic“ (2014) – 13’
für Bassflöte und Elektronik

Tyshawn Sorey: „Bertha’s Lair“ (2016, rev. 2020) – 10’
für Flöte und Schlagzeug

Claire Chase (Flöten)
David Auli Morales (Schreibmaschine)
Han geul Lee (Klavier)
Cassandra Hutsteiner (Violoncello)
Sebastian Triebener (Violoncello)
Jorge Sánchez-Chiong (Elektronik)
Katherine Young (Fagott)
Kalun Leung (Posaune)
Matthew LeVeque (Schlagzeug)
Tyshawn Sorey (Schlagzeug)
Aaron Holloway-Nahum (Klangregie)

Claire Chase

Ich dachte, dass es für die diesjährigen Ferienkurse interessant wäre, eine Auswahl der gemeinsamen "Density"-Stücke mit den Teilnehmer:innen aufzuführen. Es war wunderbar, dieses Material mit einer jüngeren Generation von Interpret:innen neu zu erlernen und neu zu gestalten.

Claire Chase
Density 2036

CLAIRE CHASE ÜBER „DENSITY 2036“

Gerardo Scheige: Du hast einige der Kompositionen von „Density 2036“ im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse 2021 vorgestellt. Der allgemeine Projekttext auf der Website spricht von einem „neuen Programm für Flötenmusik, das die Grenzen des Instruments zu erweitern sucht“. Welche sind diese Grenzen? Und hat sich in den letzten zwei Jahren etwas verändert?

Claire Chase: Die Grenzen verändern sich ständig! Wenn man sich über das hinauswagt, was man kennt -so die Autorin Donna Haraway – „vervielfältigt sich das Wilde“. Das Projekt ist also eine Einladung an Komponist:innen, Klangkünstler:innen, Interpret:innen, Improvisator:innen und Zuhörer:innen, über das hinauszugehen, was wir über die Flöte – das älteste Musikinstrument der Menschheit – zu wissen glauben, und in eine Art transhistorischen Raum der wilden Möglichkeiten einzutreten. Das ist es, was mich am meisten reizt.

GS: Wie ist das Programm des diesjährigen Konzerts der Darmstädter Ferienkurse zustande gekommen? Wie hast du die Komponist:innen ausgewählt?

CC: Die ursprüngliche Absicht des Projekts „Density 2036“ war es, ein neues Solorepertoire für Flöte zu schaffen; aber die Wahrheit ist, dass mich dieses Unterfangen ziemlich schnell gelangweilt hat. Und beim vierten Teil des Projekts im Jahr 2016 wollte ich wirklich wieder mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Das Duo, das Tyshawn und ich in jenem Jahr auf die Bühne gebracht haben, war ein Wendepunkt, und es folgten viele weitere kollaborative Iterationen des „Density“-Projekts: ein Duo mit Flöte und Ondes Martenot, mehrere Werke für Flöten und Stimmen, eine Oper für Flöte mit einem generationenübergreifenden Gemeinschaftsensemble sowie weitere Werke, die sich daraus entwickelten. Selbst das abendfüllende „Solowerk“ für Kontrabassflöte, das Liza Lim 2020 für mich schrieb, ist in seinem Kern eine intensive Zusammenarbeit, sowohl mit der Live-Elektronik als auch mit dem kinetischen Schlagzeug, das ich in dem Stück spiele und das seine eigene Subjektivität und Lebendigkeit hat. Das für 2024 geplante „Density“ ist eine Zusammenarbeit mit Terry Riley, die in Bezug auf Instrumentierung und Dauer völlig offen sein wird. Darüber hinaus plane ich Dutzende von verschiedenen Realisierungen in kleinen und großen Ensembles.

Ich dachte, dass es für die diesjährigen Ferienkurse interessant wäre, eine Auswahl der gemeinsamen „Density“-Stücke mit den Teilnehmer:innen aufzuführen. Es war wunderbar, dieses Material mit einer jüngeren Generation von Interpret:innen neu zu erlernen und neu zu gestalten. Es gibt nur ein einziges Solostück auf dem Konzert, Du Yuns „An Empty Garlic“ aus dem Jahr 2014, und das war ein besonderer Wunsch von Thomas Schäfer. Aber selbst dieses Stück fühlt sich nicht einsam an, wenn ich es spiele; Du Yun ist in meinen Gedanken immer bei mir und singt mit.

GS: Was ist das Besondere/Ungewöhnliche an dem Programm? Und welche Herausforderungen bringt es mit sich?

CC: Jedes dieser Stücke unterscheidet sich in seiner Ästhetik, seinem Umgang mit dem Instrument und seiner Notationssprache. Die Herausforderung – oder die Aufforderung, wie ich es gerne sehe – besteht darin, als Interpret:in zunehmend mehrsprachig zu sein und sich im Laufe des Programms schnell zwischen präzise notierten und improvisierten Passagen zu bewegen und das lebendige Kontinuum zwischen dem, was auf dem Blatt fixiert ist, und dem, was nur einmal und nie wieder passiert, zu erkunden. Für mich war es ein besonders bereichernder Prozess, den ich in den letzten Wochen mit meinen Student:innen durchlaufen habe, da wir von älteren Musikern wie Anthony Braxton und George Lewis umgeben waren, deren bahnbrechende Beiträge sowohl als Interpreten als auch als Komponisten das Verständnis meiner Generation dafür geprägt haben, was für zukünftige Musik möglich sein könnte. Ich bin ihnen und den fabelhaften Menschen, die mich in den letzten zwei Wochen bei der Neuinterpretation dieser Stücke unterstützt haben, unglaublich dankbar: den Tutoren Tyshawn Sorey, Jorge Sánchez-Chiong und Katherine Young sowie den Student:innen David Auli Morales, Sebastian Triebener, Han geul Lee, Cassandra Hutsteiner, Matthew LeVeque und Kalun Leung. Die Zukunft strahlt!

MAGIC FLU-IDITY

Olga Neuwirths „Magic Flu-idity“ ist eine Reduktion ihres jüngsten Flötenkonzerts „Aello – ballet mécanomorphe“, das sie 2018 für Claire Chase und das Swedish Chamber Orchestra als Begleitstück zu Bachs „Brandenburgischem Konzert Nr. 4“ schrieb. In der Flötenkonzertversion für Soloflöte, zwei gedämpfte Trompeten, Streicherensemble, Keyboard und Schreibmaschine spielt „Aello“ auf eine der Harpyien der klassischen Mythologie an, „jemand, der von den Göttern gesandt wurde, um den Frieden wiederherzustellen, wenn nötig mit Gewalt, und um Verbrechen zu bestrafen“. Mark Berry von „Seen And Heard International“ beschreibt es so: „In drei Sätzen […] sprach es sofort mit den Tönen – in jeder Hinsicht – einer ernsthaft arbeitenden Komponistin. Figuren, die an Bach erinnern, ob melodisch, rhythmisch oder beides, klangen wie in einer Maschine gefangen. Oder waren sie eigentlich ganz froh, dort zu sein? Claire Chase an der Flöte, die von zwei gedämpften Trompeten beschattet wurde, bot atemberaubende Virtuosität vor dem Hintergrund eines sich ständig verändernden Ensembles, zu dem ein synthetisiertes Cembalo und eine Glasharmonika sowie eine tragbare Schreibmaschine gehörten. Maschinen können sowohl komisch als auch ernst sein – manchmal sogar besonders dann, wenn sie ernst sind. Das kann Bach auch.“

In dieser neuen Duo-Fassung nehmen sowohl die Soloflöte als auch die Schreibmaschine Linien des Originalkonzerts auf und beschwören den Geist von „Aello“ – mal kapriziös, mal dämonisch – mit orchestraler Kraft.

Website Density 2036

UBIQUE

„Ubique“ bewegt sich an der Grenze zwischen rätselhafter Lyrik und atmosphärischer Verzerrung. Durch eine Kombination von Klängen, Tonhöhen und texturalen Nuancen umhüllen tiefe Drones lyrische Materialien und Harmonien, die im Verlauf des Stücks immer wieder in den Vordergrund treten. Der Fluss der Musik wird in erster Linie durch kontinuierliche Ausdehnung und Kontraktion – unterschiedlicher Art und Dauer – gelenkt, während er mit subtilen Unterbrechungen und Reibungen fließt, sich aber in der Gesamtstruktur immer vorwärts bewegt.

Das Werk ist inspiriert von der Vorstellung, überall gleichzeitig zu sein, einer umhüllenden Allgegenwart, während es sich gleichzeitig auf Details innerhalb der Dichte jedes Partikels konzentriert, die in verschiedenen Formen der Fragmentierung und Unterbrechung und in der Aufrechterhaltung bestimmter Elemente eines Klangs jenseits ihrer natürlichen Resonanz ihren Widerhall finden – im gesamten Stück werden Klänge sowohl auf ihre kleinsten Partikel reduziert als auch ihre atmosphärische Präsenz ins Unendliche erweitert.

Wie bei meiner Musik im Allgemeinen ist die Inspiration nicht etwas, das ich durch die Musik als solche zu beschreiben versuche – es ist ein Weg, sich der Kernenergie, der Struktur, der Atmosphäre und dem Material des Stücks intuitiv zu nähern und damit zu arbeiten.

„Ubique“ hat eine Dauer von 50 Minuten und besteht aus 11 Teilen für Flöten, Flügel, 2 Celli und vorgefertigte Elektronik. Das Stück wurde von der Pnea Foundation in Auftrag gegeben und von der Cheswatyr Foundation und der Carnegie Hall für das Projekt „Density“ von Claire Chase finanziert.

In Liebe für Claire, Cory, Katinka, Seth und Levy.

Anna Thorvaldsdottir

Claire Chase on Density 2036 | Carnegie Hall

AURICULAR HEARSAY

„Auricular Hearsay“ ist ein konzeptionelles Klangwerk, das ein von Roberts derzeit entwickeltes Mixed-Media-Konzept namens „Endless Score“ verwendet. Das Werk ist eine visuelle und klangliche Erkundung der Gehirne von neurodiversen Menschen. Neurodiverse Gehirne arbeiten mit Starts, Stopps und sogenannten Spurts (Schübe). Sie verlassen sich nie auf eine lineare Schiene, sondern fließen im Moment, gehen Risiken ein und nutzen Improvisation als Grundlage für die Untersuchung und Organisation verschiedener Bereiche der Logik. „Endless Score“ ist im Grunde ein Klangexperiment in Echtzeit, ein Werkzeug für die unendliche performative Iteration einer Reihe von geführten Klängen/Anweisungen; ähnlich den Modellen der musikalischen Wiederholung, des Themas und der Variation, die in vielen Arten von Musiktraditionen weltweit existieren, mit dem Unterschied, dass hier ein grundlegendes physiologisches Phänomen verwendet wird, um all das zu verankern, was von den Komponist:innen, Interpret:innen und Zuhörer:innen in Echtzeit erforscht wird.

Website Density 2036

AN EMPTY GARLIC

In Gedenken an einen geliebten Freund greift „An Empty Garlic“ auf die Sarabande zurück, eine barocke Tanzform, die vor allem aus Bachs „Partita in a-Moll“ für Soloflöte bekannt ist. Gleichzeitig wurde es von einem der mystischen Gedichte von Rumi inspiriert. „Ich denke oft über Trauer nach“, schreibt Du Yun in den Programmhinweisen zur Uraufführung 2014. „Wann und wie sie innehält, sich auflädt, sich verwandelt und neu beginnt… Ich bin dir so nah, dass ich mich entferne, ich bin so mit dir vermischt, dass ich mich entferne, ich bin so offen, dass ich mich verstecke, ich bin so stark, dass ich schwanke.“

Website Density 2036

Du Yun: "An Empty Garlic"

BERTHA’S LAIR

Die Flöte ist ein farbenfrohes Instrument mit unzähligen Möglichkeiten und Schönheiten, das in den letzten Jahren im Mittelpunkt meines Schaffens stand. Es war mir eine große Ehre, mit einigen der brillantesten Virtuos:innen auf diesem Instrument zusammenzuarbeiten, u.a. mit Margaret Lancaster, Alice Teyssier und Malik Mezzadri sowie Laura Cocks, Nicole Mitchell und Claire Chase – allesamt Menschen, die die Grenzen dieses Instruments auf ihre eigene, persönliche Art und Weise immer weiter ausdehnen. Ich bin all diesen Meister:innen zu Dank verpflichtet für ihre Inspiration und ihren Mut, mein Schreiben für die Flöte voranzutreiben.

Das bringt uns zu „Bertha’s Lair“, einer explosiven Tour-de-Force, die ausschließlich für Chase und mich (am Schlagzeug oder an nicht gestimmten Perkussionsinstrumenten) geschrieben wurde und meine Vorliebe für die Erkundung des Kontinuums von Improvisation und Komposition weiter verdeutlicht, wie es in meinem „Trio for Harold Budd“ (2012) und „Ornations“ (2014) zum Ausdruck kommt. Als eines der selteneren Mitglieder der Holzbläserfamilie ist das liebevoll Bertha genannte Instrument (nach dem dieses Werk benannt ist) alles andere als eine einfache Kontrabassflöte; vordergründig gibt es eine scheinbar riesige Menge an leicht verfügbaren klanglichen Möglichkeiten zu erkunden. Ich hielt es jedoch auch für notwendig, ein Werk für dieses Instrument zu schaffen, das voller hoher, rauer Energie ist – Musik zu schreiben, die der Verwendung bestimmter, für das Instrument üblicher „Effekte“ zuwiderläuft (d. h. die Verwendung langer, leiser, geheimnisvoller Klänge, Pfeiftöne usw. so weit wie möglich zu vermeiden) und sich mehr auf Form, Linie, Farbe, Textur, Ritual und vor allem auf die Körperlichkeit des Live-Spiels auf diesem besonderen Instrument zu konzentrieren. Dieses Vermeidungsprinzip wird bis zum letzten System der Komposition strikt beibehalten.

Dieses Werk ist der verstorbenen Pauline Oliveros (1932-2016) gewidmet, die als erste ein Stück für Bertha komponierte, das Chase aufführte, und die dem Instrument beim ersten Hören dessen Namen gab.

Tyshawn Sorey

Die im heutigen Konzert gespielte Fassung ist für Flöte und Schlagzeug.

Tyshawn Sorey: "Bertha's Lair"
© ️Karen Chester
© ️Karen Chester