READER: IMAGINARY LANDSCAPE
19.07.2025

inti figgis-vizueta: To give you form and breath (2019)
John Cage: Imaginary landscape No. 1 (1939)
Alexandre Babel: Snare Counterpoint (2023)
Peter Ablinger: WEISS/WEISSLICH 20 (1992/95)
Zwischen den beiden Konzerten im Orangeriegarten:
Between the two concerts in the Orangerie garden:
Cathy Van Eck: La Nature dans le Miroir (2020)
Romane Bouffioux (Percussion)
Jennifer Torrence (Percussion)
Ane Marthe Sørlien Holen (Percussion)
Corentin Marillier (Percussion)

TO GIVE YOU FORM AND BREATH
Inspiriert von Joy Harjos Gedicht Remember geht es in diesem Stück um die Bedeutung von Schöpfungsgeschichten im Zusammenhang mit Indigenen Identitäten. Das Glaubenssystem und kollektive Wissen der Indigenen Gesellschaften stammt größtenteils aus mündlichen Überlieferungen, und diese Sichtweisen sind wesentlich für unser Verständnis der Welt und der Geister, die mit uns leben. To give you form and breath versucht, Ausschnitte dieses Verständnisses durch ‚geerdete‘ Objekte und Manipulationen des Rhythmus als Manipulationen der Zeit zu kanalisieren.
inti figgis-vizueta
IMAGINARY LANDSCAPE NR. 1 (1939)
Zusammen mit Respighis Pini di Roma (1924), das Aufnahmen von Vogelstimmen verwendet, ist dies eines der frühesten elektroakustischen Werke, die je komponiert wurden. Cage verlangt ein gedämpftes Klavier, ein großes chinesisches Becken und 2 Plattenspieler mit variabler Geschwindigkeit. Auf dem ersten der beiden Plattenspieler werden eine Victor-Frequenzplatte (84522B) und eine Platte mit konstanter Note (Nr. 24) abgespielt, auf dem zweiten eine weitere Victor-Frequenzplatte (84522A). Dieses Werk wurde in einem Programm zusammen mit Cages Marriage at the Eiffel Tower uraufgeführt.
Cage Trust


SNARE COUNTERPOINT
Am Beginn vieler meiner Kompositionen steht der Versuch, Dinge wiederzugeben, die ich gesehen, gehört, gefühlt oder wahrgenommen habe. Einige dieser Dinge sind in der Natur zu finden oder sind, wie in den meisten Fällen, ein subjektives Ergebnis menschlicher oder nicht-menschlicher Eingriffe.
Im Fall von Snare Counterpoint, einem Werk, das während Covid entstand, interessierte ich mich für die Idee von Informationsflüssen und die Art und Weise, wie sie strukturiert und gestaltet werden können. Das ist ein sehr allgemeines Thema, für das es viele Beispiele gibt, aber ich erinnere mich an ein Erlebnis, das für diese Idee besonders repräsentativ war.
Eines Tages in einem Café saß ein Mann an einem Tisch neben mir und las ein Buch in Braille-Schrift, dem taktilen Schriftsystem, das von blinden oder sehbehinderten Menschen verwendet wird. Bei dem Buch handelte es sich um ein E-Book, und das Lesegerät bestand aus einem Objekt aus Kunststoff und offensichtlich elektronischen Bauteilen mit einem Streifen Löcher in der Mitte, welche teilweise mit kleinen Punkten gefüllt waren. So konnten mit dem Gerät Braille-Muster gebildet werden. Der Mann ließ seinen rechten Finger über die Linie gleiten, um den Text zu lesen. Und wenn er das Ende der Zeile erreicht hatte, drückte seine linke Hand einen Knopf: Die Zeile verschwand mechanisch und machte Platz für ein anderes Braille-Muster. Und so weiter. Dieser Vorgang vollzog sich in einem ziemlich schnellen Tempo, denn der Mann las Zeile für Zeile in einer beeindruckenden Geschwindigkeit. Seine stumme Geste gab visuell Informationen über den Rhythmus seines Lesens, obwohl niemand außer ihm Zugang zum Inhalt des Buches hatte.
Das Erstaunliche war die Schärfe der Zeilenwechsel, deren Regelmäßigkeit eine klare rhythmische Struktur ergab. Es wurde fast musikalisch, obwohl es offensichtlich nichts mit dem Fluss des Textes zu tun hatte.
In Snare Counterpoint gibt es einen konstanten und regelmäßigen rhythmischen Fluss von Sechzehntelnoten vom Anfang bis zum Ende des Stücks, der in einer Reihe von sich wiederholenden Mustern organisiert ist, die von den vier Schlagzeuger:innen gespielt werden. Der Fluss wird durch Unterbrechungen in den Musterkombinationen, koordinierte Starts / Stopps sowie Musterwechsel strukturiert. Bei jedem Patternwechsel drückt jede:r Schlagzeuger:in ein Pedal, das einen Lichtblitz auslöst, der seine Position im Ablauf anzeigt. Nach längerem Betrachten und Zuhören entsteht ein Dialog zwischen der Horizontalität der ablaufenden Muster und der Vertikalität ihrer Wechsel.
Alexandre Babel
WEISS/WEISSLICH 20

ein Beckenwirbel
ein oder mehrere Becken (Spieler:innen)
absolut gleichmäßig
satt
Start und Ende so abrupt wie möglich
beliebige Dauer
RAUSCHEN
Rauschen ist per definitionem die Überforderung schlechthin, denn Rauschen, weißes Rauschen stellt die Summe aller Klänge dar. Gleichzeitig – und wie in einer Engführung – hält Rauschen für uns auch noch die genau gegenteilige Zumutung bereit: die Unterforderung. Es scheint für mich diejenige akustische Situation zu sein, mit der wir noch weniger anfangen können als mit Nichts, mit der Stille. Wenn wir uns dem Rauschen dennoch aussetzen und in es hineinhören, beginnen wir, Melodien zu hören. Wir erzeugen Illusionen. Und die akustische Illusion ist dasjenige Phänomen, welches uns die Wahrnehmung gewissermaßen in flagranti ertappen lässt, ist es doch offensichtlich, dass wir selbst es sind, die sie erzeugen. Und was wir da erzeugen, war ebenso offensichtlich schon vorher in uns vorhanden. Das Rauschen wird hier zum Spiegel, und in der Illusion, die wir in diesem Spiegel wiederfinden, können wir die Wahrnehmung als Selbstporträt entlarven.
Peter Ablinger aus: Kopfhören. Notizen über das Wahrnehmen
MusikTexte 124, S. 13–20, mit freundlicher Genehmigung.
LA NATURE DANS LE MIRROIR
Als Mensch versuche ich, die Natur zu beobachten, indem ich sie einfange. Ich mache Bilder von schönen Landschaften und Aufnahmen von Vogelstimmen. Aber dieser Prozess des Einfangens verwandelt auch die Natur selbst. Ich benutze Wege, die in der Landschaft angelegt wurden, sodass ich leicht herumlaufen kann, ich hinterlasse den Klang meiner Schritte in der Umgebung, und wenn ich zum Beispiel zur Ile St. Pierre fahre, fügen sich die lauten Bootsgeräusche in die Akustik der Landschaft ein. In einem viel größeren Maßstab verändert der vom Menschen verursachte Klimawandel unsere Umwelt ganz allgemeinen. In einigen Jahrzehnten, wenn das Klima auf St. Pierre wesentlich wärmer ist, wird sich auch die Natur verändert haben. Der Wind wird wahrscheinlich durch andere Bäume wehen, in denen Vögel leben könnten, die früher in südlicheren Regionen vorkamen.
Inspiriert von diesen möglichen Klanglandschaften der Zukunft, wird in meinem Stück die Natur von einer Art Spiegel in der Hand der Künstler:innen eingefangen. Sensoren an ihren Armen verfolgen die Bewegungen des Spiegels. Diese Sensordaten werden verwendet, um die Klänge für die neue Klanglandschaft zu entwickeln. Ein Lautsprecher, der auf dem Herzen der Performer:innen platziert ist, verbreitet die Komposition dieser neuen Natur. Jede Bewegung des Spiegels löst einen Klang aus dem Lautsprecher am Performer oder der Performerin aus. Am Anfang sind es lokale Vogelstimmen, aber sie beginnen sich in nicht-lokale Vogelstimmen der Vögel zu verwandeln, die hier in einigen Jahrzehnten leben könnten. Die Klanglandschaft entwickelt sich weiter mit anderen Arten von künstlichen, schrägen Vögeln, und andere Geräusche der Umgebung werden durch die Bewegungen der Performer:innen hinzugefügt. Am Ende bewegen sie selbst sich wie Vögel und „fliegen“ langsam mit ihren Spiegel-Armen umher.
Cathy van Eck