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READER: OPENING CONCERT

05.08.2023

Georges Aperghis: „Situations“ (2012/13) – 70’
für 23 Solist:innen

Klangforum Wien
Emilio Pomárico (Musikalische Leitung)

BERÜHRT DURCH DAS UNBEKANNTE.
ZU SITUATIONS VON GEORGES APERGHIS

von Patrick Hahn

„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“ Nein, Elias Canetti hatte wohl kaum die Begegnung mit Neuer Musik im Sinn, als er diesen Eingangssatz zu seinem Hauptwerk „Masse und Macht“ niederschrieb. Und doch mag man ihn auf seinen Gehalt in Bezug auf die „Situations“ befragen, die Georges Aperghis für die Musiker:innen des Klangforum Wien geschaffen hat. Im übertragenen Sinn einerseits, denn immer wieder gelingt es Georges Aperghis – auch hier! – für uns Zuhörende „Berührungen durch Unbekanntes“ zu kreieren. Aber auch im ganz konkreten, von Canetti intendierten Sinn, darf man diesen Satz lesen. Canetti hebt auf die Abstände ab, die Menschen um sich schaffen, um solche „fremden Berührungen“ zu vermeiden. „Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert. Man sperrt sich in Häuser ein, in die niemand eintreten darf, nur in ihnen fühlt man sich halbwegs sicher.“ Musik überwindet Abstände in Schallgeschwindigkeit. Schall breitet sich aus, nach allen Seiten, dringt selbst ins Innere des Menschen ein, durch die Ohrmuschel, aufs Trommelfell, Amboss und Steigbügel zum Hörnerv, der sendet Impulse ans Gehirn, die dort ihr neuronales Spiel entfesseln, Gedanken und Gefühle entfachen. Auch zum Musizieren selbst rücken Menschen – wieder, ein Glück! – nahe zusammen, um gemeinsam zu atmen, zu schwingen, in Resonanz zu kommen und Resonanz zu erzeugen. Auch im Publikum ist es so: „Man legt die Waffen und Stacheln ab, mit denen man sonst gegeneinander so gut ausgerüstet ist; man berührt sich und fühlt sich doch nicht beengt.“ Konzertpublikum wie Orchester nimmt Canetti in Masse und Macht ebenfalls in den Blick, jedoch vor allem hinsichtlich ihrer Bezogenheit auf die Macht des Dirigenten, der das Orchester wie eine Armee anführt, während das Publikum in seinen Augen eine „stockende Masse“ ist: „Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. […] Nur alle zusammen können sich von ihren Distanzen befreien. […] In der Entladung werden die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich. […] Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um dieses glücklichen Augenblickes willen, da keiner mehr, keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse.“ Jede Masse konstituiert sich aus Indi-
viduen. Und das Wunder jeder gelingenden musikalischen Aufführung liegt auch zu einem guten Teil darin begründet, wie sich zahlreiche hochspezialisierte künstlerische Persönlichkeiten auf so besondere Weise synchronisieren, dass ein neues Ganzes entsteht, für das die deutsche Sprache gar einen eigenen Begriff geprägt hat: den Klangkörper. „Situations“ von Georges Aperghis ist ein Stück über einen ganz besonderen Klangkörper, das Klangforum Wien. Es ist ein Stück über Gemeinschaft und zugleich eine Sammlung von Porträts der Einzelnen, welche diese Gemeinschaft konstituieren. Und Elias Canetti ist auch dabei.

Das Klangforum Wien, vom Komponisten Beat Furrer ins Leben gerufen, ist heute eines der führenden Ensembles für zeitgenössische Musik. Mit seinem Gründungsjahr 1985 ist es etwas jünger als das 1980 gegründete Ensemble Modern oder das 1976 gegründete Ensemble Intercontemporain, doch hat es sich darum nicht weniger tief in die Musikgeschichte eingeschrieben, mit seiner Vielzahl an Uraufführungen und wegweisender Interpretationen. Von Freunden gelegentlich als die „Wiener Philharmoniker der Neuen Musik“ apostrophiert, ist hervorzuheben, dass das Ensemble neben einem vollständigen Holzbläser- und Blechbläsersatz (ohne Tuba), Streichern, drei Schlagzeugern und zwei Pianisten auch eine Harfenistin, einen Saxofonisten und einen Akkordeonisten zu seinen Mitgliedern zählt, die das Klangbild des Klangforums um ihre besonde-
ren Farben bereichern. Zu seinen „Ehrenmitgliedern“ zählt das Ensemble neben prominenten österreichischen Komponist:innen von Friedrich Cerha bis zu Olga Neuwirth, oder seinen langjährigen Dirigenten, Sylvain Cambreling, auch Georges Aperghis. Die enge Zusammenarbeit zwischen Aperghis und Klangforum ist unter anderem auf einer monografischen CD mit wichtigen Ensemblestücken und dem emblematischen Kontrabass-Solo „Parlando“ dokumentiert. Eine gemeinsame Opernproduktion – „Les Boulingrin“ – hat die gegenseitige Wertschätzung weiter vertieft. Die Komposition „Situations“ ist der bisherige Höhepunkt der Begegnung von Aperghis mit dem Klangforum. Uraufgeführt bei den Donaueschinger Musiktagen 2013 wurde das Stück seither auf zahlreichen Festivals weltweit nachgespielt. Dabei entzieht es sich einer leichten „Programmierbarkeit“, mit seiner Dauer von mehr als einer Stunde ist es schon beinahe ein ganzer Abend für sich – und will es auch sein, wie der einladende Untertitel andeutet. Als „convivialité musicale“ bezeichnet Aperghis das Werk auch, als musikalische Geselligkeit. Dieser gesellige Charakter sollte ursprünglich auch in der Form zum Ausdruck kommen: „Wir sind nicht mehr im ‚Konzert‘, sondern wohnen einer Soirée bei, deren Musiker:innen vergessen zu haben scheinen, dass ein Publikum sie sieht und hört. […] Die, die gerade nicht spielen, hören ihren Kollegen beim Spiel zu (in einem Fauteuil sitzend oder auf einem Canapé), manchmal mengen sie sich in die Musik, die gerade entsteht, manchmal kommentieren sie, manchmal sind sie einfach nur da, wie in sich selbst versunken.“ Bei der Uraufführung war dieser äußerlich-theatralische Aspekt nur sehr reduziert zu erleben, die Bühne war neben Notenpulten und Instrumenten auch durch Sofas und Sessel sowie Lampen angereichert, die Beleuchtung unterstrich sacht die Vorgänge. Das eigentliche Drama dieser Zusammenkunft liegt aber – wie so oft bei Aperghis – wiederum ganz in der Musik.

Der Entstehungsprozess der Partitur war nicht nur im metaphorischen Sinne eine Begegnung. Mit jedem einzelnen Ensemblemitglied hat Aperghis sich ausgetauscht, hat Briefe und Mails gewechselt, über Lieblingsfilme gesprochen und seine Beobachtungen in musikalische Skizzen überführt. An wenigen Stellen ist das Material unmittelbar aus den Erzählungen der Musiker:innen übernommen, wie der finnische Abzählreim, den der Pianist Joonas Ahonen Aperghis vorgesprochen hat: „Entten tentten teelikamentten…“ Als „Schweinsdeutsch“ wird diese Verballhornung der Sprache deutscher Seeleute in Finnland bezeichnet, und es überrascht nicht, dass Aperghis, der selbst mit Vorliebe Fantasiesprachen erfindet, sich auf den eigentümlichen Klang dieser Kinderverse gestürzt hat. So harmlos sie im ersten Moment klingen, verhandelt auch dieser Reim das Thema von Inklusion und Exklusion, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder den Ausschluss. „… und raus bist Du.“ An vielen anderen Stellen der Partitur, in denen er den Musiker:innen zu den Instrumentalstimmen auch noch Sprech- oder Gesangsstimmen geschenkt hat, sind Sprachspiele aus seiner eigenen Hand zu erleben. „You see you do this do you play just to see it“, lässt sich zuerst die dritte Geige vernehmen, Aperghis spielt mit der Erweiterung und Verringerung von Silben, ironisch kommentiert vom Violoncello mit den Worten „È tu vois?“ Nicht immer wird diese Wortebene verständlich, sie geht immer wieder ein in die Klangfarbbänder der Instrumente. Eine Ausnahme kommt sicherlich den Aussagen des Pianisten zu, der – von anderen Instrumenten unbegleitet – Elias Canetti rezitiert. „Das Verschwiegene ist das besser Bekannte“, heißt es an einer Stelle. „Es ist präziser, und es ist kostbarer. Es wird durch das Schweigen nicht nur geschützt, es konzentriert sich daran.“ Solche Momente fungieren ähnlich wie die Titel in den Bildern von Paul Klee, die dem abstrakten Formelspiel konkreten Gehalt einhauchen. So auch jene Stelle, an der der Pianist auf die „Geduld der Hände“ zu sprechen kommt. „Wie aber sind die Hände geduldig geworden?“, fragt er erneut mit Canetti. Die – im Stück verschwiegene – Antwort bei Canetti lautet: „Eine der frühesten Beschäftigungen, von denen man weiß, ist das Kraulen im Fell ihrer Freunde, das die Affen so lieben.“ Aperghis zielt mit solchen philosophischen Fragen also im Kern auf ganz basale Prozesse, auf die Voraussetzungen von Gemeinschaft, die stets von einem Gleichgewicht zwischen individuellem und Gruppenwohl lebt.

Die musikalischen „Situationen“ lassen sich als solche quasi-archaischen Begegnungssituationen beschreiben. Es gibt elaborierte Monologe, die gehalten werden, wie gleich zu Beginn vom Kontrabass, es gibt handfeste Auseinandersetzungen wie zwischen Saxofon, Trompete und großer Trommel unmittelbar vor dem ersten Canetti-Zitat, es gibt Momente des ängstlichen Durcheinanderschnatterns, Augenblicke des zärtlichen Umkreisens, kollektive Unruhe und das totale Fest. Ein typischer, sprachnaher Duktus prägt auch die Artikulationen der Instrumente in diesem „Concerto grosso“. Oft bewegen sich mehrere Instrumente im selben Rhythmus auf engstem Tonraum, „plappern“ gemeinsam. Verfremdungen des Klangs durch Flageoletts und Ausbrüche in extreme Lagen und mit besonders starkem oder schwachen Bogendruck bei den Streichern, Mehrklänge bei den Bläsern sind ein häufig eingesetztes Stilmittel. Aperghis macht sich zugleich die Charakteristik ungewöhnlicher Blasinstrumente zu eigen wie des Heckelfons – einer „tiefen“ Oboe – oder die empyreische Ausstrahlung einer Wagner-Tube. Wie die Komponistin Eleni Ralli in ihrer Analyse des Stücks herausgearbeitet hat, gewinnt Aperghis seine Großform aus einer fortwährenden Montage fragmentarischer Situationen, von musikalischen „Fetzen“, die er in annähernd 250 Skizzen im Rahmen des Austauschs mit den Musiker:innen des Klangforum gesammelt hat. Man kann diese Konstruktion vielleicht vergleichen mit einem Haus, das durch Fenster verschiedener Form und Größe immer wieder die Perspektiven in andere „Zimmer“ erlaubt. Die Schnitte von einem Fenster zum anderen erfolgen mal in einem sanften Schwenk, häufiger jedoch im harten Schnitt, teilweise überlagern sich die Bilder aus verschiedenen Räumen.

Häufig ist es der Kontrabass, der an Scharnierstellen des Stücks neue
Perspektiven initiiert. Das Finale gehört dem Akkordeonisten, der – wie zuvor schon seine Kolleg:innen an Flöte, Geige, Cello und Klavier – seine eigene Stimme einsetzt und, sich selbst begleitend, ein Gedicht von Pusch-
kin rezitiert. Als ich den Akkordeonisten Krassimir Sterev anschreibe, um zu erfahren, worum es in dem Gedicht geht, das er rezitiert, schicke ich schnell noch die Frage hinterher, ob die Situations für das Klangforum nach wie vor wichtig seien. „Klar ist das Stück was ganz Besonderes für uns.“ – „Habt ihr dadurch neue Seiten an den Kolleg:innen kennenge-
lernt?“ – „Wiedererkannt.“ So wie das lyrische Ich in Puschkins Versen, dem eine „flüchtige Schönheit“ wieder begegnet und ihn damit aus dem Gefängnis des Alltags erlöst: „Es darf die Seele nun genesen: / Und du erscheinst zum zweitenmal, / Ein rasch entfliegend Wunderwesen, / Der reinen Schönheit Ideal.“ Einmal von ihm berührt, verwandelt sich das
Unbekannte, verwandelt uns.

Der Originalbeitrag von Patrick Hahn wurde zuerst abgedruckt in:

Programmheft zur Preisverleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2021
an Georges Aperghis am 22. Februar 2022 in München.

Deutsche Originalfassung: S. 6–16.

Klangforum Wien spielt "Situations"

Ich denke oft an einen Akrobaten, der von einem Seil zum anderen geht oder springt und sich im letzten Moment fängt. Diese Zerbrechlichkeit, diese Gefahr ist es, die ich suche.

Georges Aperghis

Klangforum Wien:

Vera Fischer (Flöten)
Wendy Vo Cong Tri (Flöten)
Markus Deuter (Heckelfon)
Olivier Vivares (Klarinetten)
Hugo Queirós (Klarinetten)
Lorelei Dowling (Fagott)
Gerald Preinfalk (Saxofon)
Christoph Walder (Horn)
Anders Nyqvist (Trompete)
Mikael Rudolfsson (Posaune)
Alex Lipowski (Schlagzeug)
Lukas Schiske (Schlagzeug)
Florian Müller (Klavier)
Joonas Ahonen (Klavier)
Krassimir Sterev (Akkordeon)
Miriam Overlach (Harfe)
Annette Bik (Violine)
Sophie Schafleitner (Violine)
Gunde Jäch-Micko (Violine)
Dimitrios Polisoidis (Viola)
Benedikt Leitner (Violoncello)
Andreas Lindenbaum (Violoncello)
Evan Hulbert (Kontrabass)

© ️Xavier Lambours
© ️Stefanie Loos