de en

READER: BOZZINI

22.07.2025

Sarah Davachi & Quatuor Bozzini

Linda Catlin Smith: Reverie (2024) – 28′

Cassandra Miller: Warblework (2011/17) – 16′

PAUSE

Ann Cleare: Meridians II (2024/25) – 31′
für zwei Saxophone und Streichquartett
Uraufführung

Cassandra Miller: Three Songs (2025) – 24′
I. Ange
II. Claire
III. Bella
Uraufführung

Patrick Stadler (Saxofon)

Marcus Weiss (Saxofon)

Quatuor Bozzini
Clemens Merkel (Violine)
Alissa Cheung (Violine)
Stéphanie Bozzini (Viola)
Isabelle Bozzini (Violoncello)

Gefördert durch:
Conseil des arts du Canada
CALQ (Conceil des arts et des letters du Québec)

REVERIE

Sich in einer Träumerei zu befinden bedeutet, sich in Gedanken zu verlieren; Musik zu komponieren (und Musik zu hören) ist eine Einladung, sich in musikalischen Gedanken zu verlieren. In einer Träumerei zieht einen der Geist in diese und jene Richtung, es gibt Gedankenstränge, die einen hierhin und dorthin führen. In diesem Werk spielen die vier Musiker:innen meist als Einheit, während sich der eine oder die andere von ihnen immer wieder zurückzieht, wie ein verirrter Faden, der sich aus dem Gewebe löst. Diese streunenden Fäden kreisen um eine Idee, nähern sich ihr mal aus diesem, mal aus jenem Blickwinkel, aus einer sich ständig verändernden Perspektive – als würde man sich in einer Träumerei verlieren. Ich bin dem Bozzini-Quartett, meinen alten Freund:innen, sehr dankbar, dass sie dieses Werk in Auftrag gegeben haben und dass sie sich über so viele Jahre hinweg für Komponist:innen eingesetzt haben.

Linda Catlin Smith

🍁

Bozzini Quartett über Linda Catlin Smith

Isabelle Bozzini: Linda gehörte lange Zeit nicht zu den weithin akzeptierten Komponist:innen. Ihre Stücke wurden von den Orchestern und größeren Ensembles fast nicht gespielt. Wir haben ihre Musik von Anfang an geliebt. Inzwischen hat sie viele junge Komponist:innen und Interpret:innen für sich gewonnen.

Clemens Merkel: Wir haben einige ihrer Quartette sehr oft gespielt, aber dieses ist das erste, das wir selbst in Auftrag gegeben haben. Linda gehört zu einem sehr interessanten Zweig der kulturellen Genealogie in Kanada. Da gibt es Rudolf Komorous, einen wirklich obskureren tschechischen Komponisten, der 1968 die Tschechoslowakei verließ und nach Victoria auf Vancouver Island zog. Viele Komponist:innen haben bei ihm studiert: Linda Catlin Smith, Martin Arnold, Christopher Butterfield, Owen Underhill, Rodney Sharman …

WARBLEWORK

Dieses Stück hat einen ungewöhnlichen Ursprung. Vor Jahren, als ich meine Heimat an der Westküste Kanadas verlassen wollte, um in Europa Komposition zu studieren, sammelte ich Geld für meine Reise, indem ich noch ungeschriebene Takte an alle verkaufte, den ich jemals getroffen hatte. Das Ergebnis war ein riesiger Auftrag von über sechzig Freund:innen, Familien- und Community-Mitgliedern. Im Jahr 2011 löste ich mit Hilfe des Quatuor Bozzini endlich mein Versprechen ein und schrieb das Stück Warblework.

Jeder der vier Sätze von Warblework (warble = zwitschern) basiert auf dem Gesang von Vögeln – insbesondere von vier Drosseln (Zwergdrossel, Einsiedlerdrossel, Walddrossel, Weidenmusendrossel) – deren Gesang der harmonischen Reihe folgt. Verlangsamt man den Gesang dieser Vögel, enthüllen sich unglaublich menschenähnliche Melodien. Diese vier Sätze sind also eine Art Gedicht über die regionalen Klänge der Pazifikküste und ihrer Wälder. Während sich die Drosseln durch die harmonische Reihe bewegen, offenbart ein Lied in Zeitlupe Melodien, die in der Tradition von Folk und alten Jazzstandards stehen.

Cassandra Miller

🍁

Isabelle Bozzini: Und Cassandra Miller ist wiederum Schülerin von Christopher Butterfield. Sie gehört zur dritten Generation. Viele der jüngeren Generation haben bei Butterfield studiert.

Gesang der Einsiedlerdrossel

MERIDIANS II

Inspiriert von einem Projekt, in dem ich über Instrumente zur Kartierung des Nachthimmels forschte, imaginiere ich in Meridians II für zwei Saxophone und Streichquartett das Ensemble als ein Instrument zur Messung von Helligkeit und Zeit.

Die Saxophonfiguren entfalten sich wie Längengrade, vertikale Energielinien in Transformation. Das Streichquartett bildet ein Kraftfeld, in dem die Saxophonlängen kreisen und fluktuieren.

Licht- und Energiezyklen konvergieren und divergieren, ähnlich wie bei einer Sonnenuhr und bei nächtlicher Arbeit in den modulierenden Welten von Tag und Nacht.

Im Auftrag von Patrick Stadler, Marcus Weiss und dem Bozzini Quartet, mit einer Förderung des Arts Council of Ireland

🍁

Isabelle Bozzini: Ann Cleare ist eine interessante Komponistin und seit langem auf unserem Radar.

Clemens Merkel: Patrick Stadler hat dieses Projekt ins Leben gerufen. Ich weiß nicht, wie die Idee entstanden ist, zwei Saxophone und ein Streichquartett zu haben, aber wir freuen uns sehr darauf, es zu spielen!

Isabelle Bozzini: Wir hatten schon einige Projekte mit irischen Komponist:innen – Seán Clancy, der auch an unserer Composer’s Kitchen teilgenommen hat, und wir haben auch viel mit Jennifer Walshe gearbeitet.

THREE SONGS

Three Songs (2025) handelt von der Freude, neue Dinge über alte Freund:innen zu erfahren. Dieses Stück ist die Fortsetzung einer langen Freundschaft mit dem Quatuor Bozzini, die 2009 begann. Als wir mit der Arbeit an diesem Stück anfingen, stellte ich dem Quartett viele Fragen, unter anderem, welche Lieder sie als Kinder oder vielleicht für ihre Kinder gesungen haben. Ich habe mich gefreut, dass es noch so viel über meine alten Freund:innen gab, was ich noch nicht wusste. Ich erinnerte mich an das Gedicht The Whistler von Mary Oliver, in dem sie darüber schreibt, wie sie mit Erstaunen erfährt, dass ihre Frau seit dreißig Jahren pfeifen kann („wie aus der Kehle eines fröhlichen Vogels, nicht gefangen, aber zu Besuch“).

Diese drei französischen und italienischen Volks- oder Lagerfeuerlieder wurden mir von den Quartettmitgliedern vorgesungen. Ich habe sie quasi wie Schlaflieder behandelt – ich habe etwa darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, einem Kind oder einer Freundin etwas vorzusingen, wie es nicht nur für die Empfängerin, sondern auch für den Sänger tröstlich ist. Ich habe damit begonnen, ihren Gesang zu transkribieren, und mich dabei auf die Elemente konzentriert, die mit dem Gefühl des Schaukelns, des Haltens oder des Tröstens zu tun haben. Diese Elemente wiederholen sich dann immer wieder, bis sie aus dem Zusammenhang gerissen wie neu klingen. „Ich kenne sie so gut, denke ich. Ich dachte. […] Wer ist das, mit dem ich seit dreißig Jahren lebe? Diese klare, dunkle, schöne Pfeiferin?“

gemeinsamer Auftrag von: The Earle Brown Music Foundation Charitable Trust, Le Vivier, Soundstreams, Darmstädter Ferienkurse, Quatuor Bozzini
mit Unterstützung von: Canada Council for the Arts, hcmf//

🍁

Clemens Merkel: Cassandra Miller war 2009 Teilnehmerin in unserem Format Composer’s Kitchen. Mittlerweile ist sie dort zur Mentorin geworden.

Isabelle Bozzini: Wir arbeiten mit vielen früheren Teilnehmer:innen der Kitchen regelmäßig zusammen.

© ️Rachel Topham
© ️Rachel Topham
© ️Dennis Ha
© ️Benjamin Ealovega