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READER: PIANO SPEAKERS

Blecharz / Nakamura

Wojtek Blecharz: Concerto for Piano and Wireless Speakers (2021–23) – 60’

Uraufführung

Rei Nakamura (Klavier)
Wojtek Blecharz („Dirigent“)

Nicolas Navarro Rueda (Kostüm)

Mit Unterstützung der Akademie der Künste Berlin und des Musikfonds.

Wojtek Blecharz’ Concerto for Piano and Wireless Speakers ist seit knapp einem Jahrzehnt das erste Stück des Komponisten, das nicht als Auftragswerk und ohne den damit zusammenhängenden zeitlichen Druck entstanden ist. Auf Anregung der Pianistin Rei Nakamura, die in diesem Jahr mit einem Workshop im Piano Studio von Nicolas Hodges zu Gast ist und seit vielen Jahren Werke für Klavier und andere Medien in Auftrag gibt, arbeitet Wojtek Blecharz zwar auf der Folie einer traditionsreichen Gattung (dem Klavierkonzert), bespielt diese aber sehr experimentell, indem er auf ein instrumentales Ensemble oder Orchester gänzlich verzichtet und es durch kleine mobile Lautsprecher ersetzt. Während Rei Nakamura die Rolle der Solistin übernimmt, fungiert der Komponist als eine Art “Dirigent”, indem er die Lautsprecher durchaus auch in Interaktion mit dem Publikum im Raum platziert. Verbindet man mit der industriellen Revolution auch die Möglichkeit, Musikinstrumente in Massenproduktion herzustellen, so verweisen die kleinen mobilen Lautsprecher ihrerseits auf die digitale Revolution, mit der eine massenhafte Speicherung von Klängen und deren Wiedergabe an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich wird. Auch daran hat Wojtek Blecharz – 1981 in Polen geboren und Stipendienpreisträger der Darmstädter Ferienkurse von 2012 – wohl gedacht, als er den einen durch den anderen “Klangkörper” ersetzte. So entsteht durch dieses hybride Setting ein ganz neuer musikalischer Raum, der unterschiedliche Hörperspektiven befördert.

Wojtek Blecharz gibt eine kurze Einführung in sein „Concerto for Piano and Wireless Speakers“
Der „EasyAcc Mini“-Lautsprecher
Produktrezension

DAS KONZERT IM 20. JAHRHUNDERT

Seit den 1970er Jahren läßt sich eine Renaissance des Konzertes erkennen, wobei historisierende Anklänge, neue Methoden der Klangerzeugung und extremes Virtuosentum zusammenkommen. Neben dem Bestreben, neue Ausdrucksbereiche zu erschließen (W. Rihm, D. Müller-Siemens, H.-J. von Bose u.a.), herrscht dabei zu­weilen eine an Beliebigkeit grenzende ästhetische Vielfalt, die man als ›Polystilistik‹ begrüßen oder als Fehlen einer eigenen ausgeprägten Sprache beklagen mag; sie ist wohl authentischer Ausdruck einer Zeit, die vom Bewußtsein allgemeiner Unsicherheit beherrscht wird und Halt in der Vergangenheit sucht. Insbesondere in den Konzerten der als ›postmodern‹ verstandenen Musiker (A. Pärt, Schnittke, S. Gubajdulina u. a.) sind Rückgriffe auf historische Formen, Be­setzungen und Klänge deutlich. Im übrigen bleibt jedes Werk »eine Art Abenteuer: Es verlangt die erneute Suche nach einer Klangfarbe, einem Akkord, einem genauen Rhythmus, dem ich einen ebenso genauen Ausdruck gebe« (Carter über sein Oboenkonzert 1987, in: Programmheft zum Konzert 10 Jahre Paul Sacher Stiftung, Basel 1996, S. 17). Das Prinzip des Konzertierens ist längst nicht mehr an spezielle Besetzungen, Formen oder Stile gebunden, sondern definiert sich als immer neues spielerisches Miteinander.

Volker Scherliess und Arno Forchert, in MGG online (November 2016)

Das Konzert bei der MGG

Video-Interview mit Wojtek Blecharz & Rei Nakamura

Wojtek, 2012 hast du ein Kompositionsstipendium in Darmstadt erhalten. Jetzt kommst du mit einem Stück im großen Format zurück. Wie hat sich dein künstlerisches Leben seit damals entwickelt?

Wojtek Blecharz: Letztendlich ging damals meine Karriere los. Vor elf Jahren hatte ich keine Kompositionsaufträge. Mit meinen 31 Jahren war ich ein Spätzünder. Gewissermaßen steht mein Concerto for Piano and Wireless Speakers in Bezug zu meiner Darmstadt-Geschichte. Als ich damals zu diesem legendären Festival gegangen bin, mussten wir jeden Abend jeweils zwei Konzerte lang fordernde Musik hören. In der Regel waren sie bestuhlt, man saß also einfach und hat nachgedacht. Das war für mich der Anfang, über neue Möglichkeiten nachzudenken, wie man Musik aufführen kann – oder wie man die bestehenden Formate neu denken kann.

Wie habt ihr beiden euch als künstlerische Kollaborationspartner:innen gefunden?

Rei Nakamura: Ich habe Wojteks Musik gehört – sie ist jedes mal ein Erlebnis. Man muss dabei wirklich im Moment sein. Ich arbeite viel mit Performances, die das Erleben im Hier und Jetzt fokussieren – den eigenen Zustand, die Gegenwart. So wollte ich mit Wojtek zusammen arbeiten.

WB: Rei ist auf multimediale Performances spezialisiert. Ich schätze sehr, wie viel Aufmerksamkeit sie choreografischen Elementen schenkt, darauf, wie sie sich und ihre Bewegungen präsentiert.

Wojtek – was macht kabellose Lautsprecher so interessant für dich?

WB: Für meine dritte Opern-Installation habe ich mit 100 vibrierenden Transducern gearbeitet. Das Publikum konnte damit Klang als Vibration wahrnehmen. Das ist wunderbar, aber man muss auch 700 Meter an Kabeln verlegen. So bin ich dann auf die kabellosen Lautsprecher bekommen. Während Corona war ich viel mit den Lautsprechern daheim. Ich saß in meinem kleinen Berliner Appartement und bin in ihre Soundscape eingetaucht. Es war so angenehm, vom Klang umarmt zu werden. Im Concerto for Piano and Wireless Speakers, aber auch in meiner Third Symphony for 200 Wireless Speakers ersetzen die Lautsprecher das Orchester. Das ist auch eine Kritik an bestehenden Institutionen und musikalischen Formaten. Natürlich hatte ich gute Erfahrungen mit der Arbeit mit Orchestern, leider aber auch echt anstrengende. Mit den kabellosen Lautsprechern zu arbeiten ist hingegen super einfach, ich muss sie einfach nur aufladen. Außerdem stehen sie im Kontext technischer Revolutionen. In den 1970er-Jahren wurde der Walkman erfunden. Das hat unser Erleben von Klang tief verändert. Der Walkman war die erste portable Klangquelle. Zum ersten mal konnte man sich selbst durch Sound isolieren und in diesem Zustand durch die Stadt laufen. Ich begreife die portablen Lautsprecher nicht als Orchester, das beherrscht werden muss, sondern eher als einen Garten von Klängen. Ich performe mit ihnen, ich bewege sie umher. Schritt für Schritt baue ich damit ein klangliches Rhizom im Konzertraum und versuche, Menschen mit Sound zu umarmen und zu umgeben, ihnen verschiedene klangliche Treatments anzubieten. Ich möchte mich wirklich von dieser großen Idee der Eroberung in der Musik lösen – sie hat die westliche Musik über Jahrhunderte genug geprägt.

Eine dieser Musiker:innen ist aber übrig geblieben – sie sitzt neben dir. Rei, was ist deine Rolle in diesem Konzert? Wie ist es für dich, anstelle von Menschen mit 50 portablen Lautsprechern zu spielen?

RN: Es stimmt, die Rolle der Solistin ist noch übrig geblieben. Für mich ist es sehr interessant, in dieser beweglichen Klanglandschaft zu agieren. Es ändern sich ja nicht nur die Klänge in den jeweiligen Abschnitten des Stücks, sie werden auch im Raum bewegt. Der Klang und der Konzertort stehen in einer Beziehung zueinander – das ist nicht nur für das Publikum eine interessante Erfahrung, sondern auch für mich, wenn ich in dieser Klangwelt einen Solo-Part gestalte.

WB: Die Klavierstimme verweist auf Stücke für Klavier, die eine besondere Bedeutung für mich haben, zum Beispiel Lachenmanns Guero, oder auch die Weise, wie Scelsi Klavier spielte. Außerdem weist das Konzert die klassischen Elemente auf: Es gibt ein Hauptthema, ein Seitenthema, die Überleitung. So ein Thema muss aber nicht zwingend ein musikalisches Motiv sein – es kann auch ein Konzept sein, eine Anhäufung von Lautsprechern auf dem Boden oder eine Linie aus Speakern. Ich spiele mit diesen alten Konzepten und deute sie um. Es gibt sogar eine Kadenz!

Werden wir sie erkennen?

RN: Ich glaube schon.

WB: Historisch gesehen ging es im Konzert immer um diesen Kampf zwischen dem Individuum und dem Orchester. Um Wettbewerb und ums Virtuosentum. In meiner Musik findest du so etwas aber nicht. Ich komponiere da eher im Geiste von Éliane Radigue oder Pauline Oliveros. Meine Musik ist gewissermaßen spannungsfrei. Die Lautsprecher interessieren sich nicht für Dominanz und Eroberung. Sie formen vielmehr eine organische, rhizomatische, pflanzenartige Struktur. Dabei sind sie nie synchron, sondern verflechten sich durch Mikro-Loops, Mikro-Kanons und generelle Vielschichtigkeit. Die Natur und die Struktur dieser Musik widersprechen der westlichen Obsession, alles synchronisieren und beherrschen zu wollen.

Rei, vermisst du manchmal die strenge musikalische Taktung?

RN: Zeit und Takte schaffen eine Struktur, eine Form. Es gibt immer Begrenzungen, auch in diesem Stück – räumliche Begrenzung zum Beispiel. Einschränkungen innerhalb eines ansonsten freieren Raums zu haben schafft eine Art Form. Mit dieser Disziplin, diesem inneren Takt zu spielen sorgt für Struktur. Sonst kann es auch zu willkürlich werden.

Wojtek, in deinem kurzen Einführungsvideo zum Stück zitierst du Pauline Oliveros, die davon sprach, dass wir uns von Kohlenstoff- zu Silikon-Wesen verändern würden. Wie siehst du das?

WB: Leider muss man heute ja eher von Plastik-Wesen sprechen, so viel Kunststoff wie wir zunehmend in unseren Körpern haben. Ich arbeite mit Alltagsgegenständen, die nicht besonders hochwertig sind – auch als Anspielung darauf, manchmal mit Technologie auch überfordert zu sein. Ich habe keinen täglichen Zugang zu einem fancy Studio für elektronische Musik. Ich arbeite mit dem, was ich habe, was verfügbar ist. Es ist auch eine Reflektion über überholte Technik. Die Firma aus Hongkong produziert die kabellosen Lautsprecher mittlerweile nicht mehr, weil sich deren Metallteile so abnutzen. Ich bin ohne Social Media aufgewachsen und überhaupt war mein Leben kaum von mechanischen Geräten geprägt – da gab es vielleicht mein Fahrrad und unseren gemeinsamen Fernseher, das war’s. Heute schreibe ich Musik am Computer. Elektronische Geräte organisieren unsere Leben so stark, dass sie sie schon beinahe bestimmen. Meine Musik ist ein Versuch, davon wegzukommen – mit einer sehr poetischen Geste möchte ich etwas Träumerischeres gestalten.

Fragen: Friedemann Dupelius