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READER: SCENES FOR ORCHESTRA

19.08.2023

Morton Feldman: String Quartet and Orchestra (1973) – 22‘

Mariam Rezaei & Matthew Shlomowitz:
Six scenes for turntables and orchestra (2023) Uraufführung – 20‘
Scene 1: The First Scene
Scene 2: Screech (recit.)
Scene 3: Organ Tones
Scene 4: Milford Graves in heaven
Scene 5: Beat juggle shuttle
Scene 6: Harp Whip (recit. and chorus)

Auftrag der Darmstädter Ferienkurse sowie von Ictus, deSingel, Brussels Philharmonic und nyMusikk

PAUSE

Kaija Saariaho: Orion (2002) – 25‘
für Orchester
I. Memento mori
II. Winter Sky
III. Hunter

Mariam Rezaei (Turntables)
Fabrik Quartet
Federico Ceppetelli, Adam Woodward (Violine)
Jacobo Diaz Robledillo (Viola)
Elena Cappelletti (Violoncello)
hr-Sinfonieorchester
Pierre Bleuse (Musikalische Leitung)

Mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung

Die Konzerte des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt bei den Darmstädter Ferienkursen sind regelmäßige Highlights – so auch in diesem Jahr, wenn das Orchester das finale Konzert unter der Leitung von Pierre Bleuse, dem neuen Chefdirigenten des Pariser Ensemble intercontemporain spielt. In Darmstadt kann der Klangkörper Programme realisieren, die im sonstigen Saisonverlauf schwer zu programmieren wären. Das gilt für Mariam Rezaeis und Matthew Shlomowitz’ als Kooperation entstandenes Stück Scenes für Turntables und Orchester vermutlich noch mehr als für Morton Feldmans String Quartet and Orchestra. Den Solopart in diesem zwanzigminütigen meditativ fließenden Klanggebilde übernimmt das junge Fabrik Quartet aus Frankfurt, dessen Mitglieder in den letzten Zügen ihres Studiums an der Hochschule stecken, aber bereits jetzt mehrere Preise eingeheimst haben. Die Vier sind in diesem Jahr auch Teilnehmer:innen der Darmstädter Ferienkurse. Kontrastreich zeigt sich das gewaltige letzte Stück des Abends: Klagendes Memento mori – klarer Winterhimmel – rasendes Dahinjagen. Die finnische Komponistin Kaija Saariaho entwickelt ihre Stücke gern aus Bildern und Metaphern heraus. Hier dreht sich die Komposition um Sternbild und Mythos des Orion. Saariaho schrieb das monumentale Werk 2002 für das Cleveland Orchestra. Auch gut zwanzig Jahre später hat Orion nichts von seiner magischen Kraft eingebüßt – ein grandioser Schlusspunkt des Festivalprogramms der Darmstädter Ferienkurse 2023.

MORTON FELDMAN: STRING QUARTET AND ORCHESTRA

Der amerikanische Komponist Morton Feldman war ein großer Mann von kräftiger Statur, starker Raucher und Freund klarer und lauter Worte. Der Musik hingegen näherte er sich mit geradezu zärtlicher Zurückhaltung. Als Stockhausen ihn einmal nach seinem Geheimnis fragte, empfahl ihm Feldman, die Klänge einfach in Frieden zu lassen: »Don’t push the sounds!«

Tatsächlich zieht es die Klänge Feldmans nirgendwo hin. Sie ruhen im Raum, atmen ein und aus. Feldmans Musik appelliert nicht und schmeichelt nicht, vielmehr wirft sie ihre Zuhörer:innen ganz auf sich selbst zurück.

Christoph Becher

In String Quartet and Orchestra interagieren kurze lyrische Fragmente des Streichquartetts mit statischen Akkorden des Orchesters. Wie in Ligetis auf Texturen basierenden Orchesterwerken bleibt keine der momentanen Konfigurationen länger als nötig bestehen. Eine kurze Solofigur des Cellos, ein wiederholter absteigender Halbton, wird schnell von einem anhaltenden Holzbläsercluster abgelöst. Doch im Gegensatz zu Ligeti ist die abgelöste Figur nicht für immer verschwunden: Eine Minute später taucht die absteigende Halbtonfigur in einem viel höheren Register in der Violine wieder auf, diesmal begleitet von einer der Tonhöhen des Clusters, die von der Trompete gehalten wird, bevor sie bevor sie in der Resonanz eines Klavierakkords verschwindet. In der Kleinheit der Gesten und der unerschöpflichen Permutation erinnert die Musik an Webern, ist sie in Zeitlupe und über eine riesige Leinwand gedehnt.

Liam Cagney

MARIAM REZAEI & MATTHEW SHLOMOWITZ:
SIX SCENES FOR TURNTABLES AND ORCHESTRA
Interview: Sophie Emilie Beha

Normalerweise wird ein Stück von „nur“ einer:m Komponist:in geschrieben – wie ist euch das gemeinsame Komponieren gelungen?

Matthew Shlomowitz:
Ich hatte eine Rolle, die darin bestand, die Musik für das Orchester zu machen. Und Mariam hatte eine Rolle, die darin bestand, ihren Part zu machen. Aber wir haben zusammen komponiert, also Sie schickte mir einen Clip, in dem sie an den Plattenspielern improvisierte, und ich schickte ihr die Orchestermusik, und sie machte und sie machte einen Part dazu. Und dann haben wir uns jeden Freitag per Videoanruf getroffen und uns darüber unterhalten, was zu tun ist, wie es anfangen soll und was als nächstes kommen sollte. Im Juni habe ich dann drei Tage mit ihr in Newcastle verbracht, wo sie im Norden Englands lebt, und wir haben das alles zusammen.

Wie habt ihr Mariams und Matthews Rollen miteinander verknüpft?

MS: Manchmal gab es da eine Logik und manchmal überhaupt keine Logik. Mariam sagte einmal: „Oh, ich habe diese Idee für etwas wirklich Verrücktes, Aggressives und Verrücktes – kannst du ein bisschen glitzernde Weihnachtsmusik dazu machen?“ Und so habe ich etwas glitzernde Musik gemacht und dann haben wir die Teile zusammengefügt und beide dachten: „Wow, das ist seltsam. Man kann sechs Monate damit verbringen, etwas zu schreiben, und dann haben wir dieses Ding einfach auf eine sehr einfache Weise gemacht. Das gefällt uns beiden.

Mariam Rezaei:
Jetzt bin ich 38 und es ist mir egal, was die Leute denken, denn ich bin mir bewusst, dass ich weiß, was ich tue, und ich tue es auf meine eigene Art. Beim Schreiben für den Plattenteller geht es nicht darum, dass es anderen Leuten gefällt. Es geht darum, etwas Neues und Ehrgeiziges mit einem jungen Instrument zu schaffen. Ich lasse mich also in jeder Hinsicht auf das Experiment des Sounds ein. Ich denke, dass das Zögern der Leute manchmal darauf zurückzuführen ist, dass sie Angst vor dem Unbekannten haben. Man kann sich entscheiden, ob man Angst hat oder aufgeregt ist.

Mariam, du spielst ein Instrument, das einen oft überrascht. Der Klang, der sich ergibt, kann ganz anders sein, als man erwartet. Wie gehst du damit um?

MR: Genau, man weiß, was das Sample ist, aber man weiß nicht, was passiert, wenn man damit spielt. In neun von zehn Fällen kommt es ganz anders als erwartet (lacht), und diese Wahrheit habe ich inzwischen akzeptiert. Manchmal neigen Turntablisten dazu, eine sehr strenge Vorstellung davon zu haben, wie die Dinge klingen sollten, aber ich denke, wenn man anfängt, den Zufall zu akzeptieren, werden die Dinge wirklich interessant – mit dem Unbekannten umzugehen, öffentlich auf der Bühne, dazu braucht man wirklich Mut.

Eure Komposition besteht aus sechs Szenen für Turntables und Orchester. Wie sind sie strukturiert, gibt es eine Rahmenerzählung oder steht jede von ihnen für sich?

MS: Diese sechs Szenen sind alle ziemlich eigenständig. Ich würde nicht sagen, dass es eine Erzählung gibt, aber es gibt eine Art Bogen dazu. Es gibt eine Form. Wir haben versucht, eine Art Reise zu machen, ich denke, in gewisser Weise ist es ein bisschen wie Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgsky oder Leoš Janáčeks Sinfonietta. Es gibt viele kleine Stücke, die alle sehr eigenständig sind, aber es gibt auch einen Grund für eine Reihenfolge der Stücke. Und dafür haben wir uns für die Unterschiede entschieden. Diese Stücke sind wirklich sehr heterogen. Nach einer Sache, die wir machen wollen, setzen wir das komplette Gegenteil daneben. So machen wir immer weiter. Wir wollen, dass das Stück wie mit weit geöffneten Armen in die Welt hinausgeht.

Interview mit den Turntablist:innen Mariam Rezaei und Jorge Sánchez-Chiong (PDF, 5,1 MB)

KAIJA SAARIAHO: ORION

Bilder der Nacht, Träume, Mythen und ferne Mysterien haben im Werk von Kaija Saariaho schon immer eine große Rolle gespielt. Der umfangreiche Katalog der finnischen Komponistin enthält beschwörende Titel wie From the Grammar of Dreams, Wing of the Dream, Caliban’s Dream, For the Moon, Graal Theatre, The Castle of the Soul und ihre Oper L’Amour de Loin (‚Liebe aus der Ferne‘). Orion, der geheimnisvolle und abenteuerliche Jäger der griechischen Mythologie, war der sterbliche Sohn von Neptun (Poseidon), dem Gott der Meere. Nach seinem Tod wurde Orion von Zeus als strahlendes Sternbild in den Himmel gestellt. Er ist also gleichzeitig ein aktives (sogar hyperaktives) menschliches Wesen und ein unbewegliches Himmelsobjekt, und Saariaho hat diesen Kontrast in dem vorliegenden dreisätzigen Werk – ihrer bisher größten rein symphonischen Komposition – voll ausgeschöpft.

Orion beginnt seine musikalische Reise in einer Art amorphem „interstellarem Raum“. Der erste Satz mit dem Titel Memento mori („Bedenke, dass du sterben musst“) entwickelt sich von einer geheimnisvollen Einleitung zu einem kraftvollen Orchesterausbruch, der durch den Einsatz der Orgel gekennzeichnet ist. In diesem Moment erklingen auch eine ausgedehnte Streichermelodie und eine eindringliche – man möchte sagen unerbittliche – rhythmische Idee in gleichen Achtelnoten, die von den Holzbläsern im Fortissimo gespielt wird. Die Musik wird dann lebhafter, mit einer neuen, aufgeregten Figur in schnellen Sechzehntelnoten, die allmählich fast das gesamte Orchester ergreift und furioso und con violenza wiederholt wird, bis sie abrupt abgebrochen wird.

Der zweite Satz, Winter Sky, beginnt mit einem eindringlichen Piccolo-Solo, das von Solovioline, Klarinette, Oboe und gedämpfter Trompete fortgesetzt wird. Während die Orchestersolisten die Melodie weitertragen, sorgen die anderen Instrumente für eine farbenreiche und stimmungsvolle Begleitung. Die Orchestertextur füllt sich später mit vielschichtiger Polyphonie, dennoch bleibt der Satz ruhig und kontemplativ. Zum Schluss wird das ohnehin schon langsame Tempo noch langsamer, als das Klavier aus dem Hintergrund mit einer „himmelhohen“ Melodie hervortritt, die einige Töne in wechselnden Permutationen wiederholt, über ausdrucksstarken Streicherglissandi und
Glissandi der Streicher und dem Klang von Glockenspielen, gestrichenem Vibraphon und Crotales.

Mit dem energiegeladenen Schlusssatz, der den Titel Hunter trägt, kehren wir auf die Erde zurück. Er ist eine Studie in ständiger Bewegung – oder fast, denn die schnelle Bewegung wird immer wieder von kurzen geheimnisvollen Episoden in langsamem Tempo unterbrochen. Die dritte dieser Unterbrechungen, die sich länger hinzieht als die ersten beiden, erinnert für einen Moment an den zweiten Satz, bevor die Musik zu ihrer früheren Dynamik und Freude zurückkehrt. Die Erregung nimmt zu, doch während das Tempo steigt, nimmt die Lautstärke ab. Mehr und mehr Instrumente fallen aus, und am Ende hat der Orion wieder seine Position am nächtlichen Firmament eingenommen.

Peter Laki

© ️Angela Grabowska
© ️IMD-Archiv/ Manfred Melzer
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