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READER: PLAYING WITH SEEDS

14.08.2023

Mivos Quartet

George Lewis: String Quartet 2.5 “Playing with Seeds” (2017) – 20’

Sivan Eldar: Solicitations (2018) – 12’

Dai Fujikura: String Quartet No. 3 “Aquarius” (2020) – 10’

Alvin Singleton: String Quartet No. 2 “Secret Desire to Be Black” (1988) – 12’

Mark Andre: Sieben Stücke für Streichquartett (2022) – 6’

Mivos Quartet:
Olivia De Prato (Violine)
Maya Bennardo (Violine)
Victor Lowrie Tafoya (Viola)
Tyler J. Borden (Violoncello)

Mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung und der Pro Musica Viva – Maria Strecker-Daelen-Stiftung (PMV)

Mivos Quartet

OLIVIA DE PRATO AND MAYA BENNARDO ON PLAYING WITH SEEDS

Olivia De Prato: Das Programm erforscht verschiedene Klangwelten. Ich denke, dass es auch die Extreme der Instrumente ausreizt. Von sehr, sehr laut und extrem intensiv bis hin zu den leisesten Klängen, die ein Streichinstrument erzeugen kann – man:frau stößt an die Grenzen. Vor allem angesichts der Entwicklung des Programms vom Beginn zum Schluss.

Maya Bennardo: Das Stück von George Lewis enthält gewissermaßen sogar das gesamte Programm in sich. Von dort aus strömen wir in verschiedene Richtungen aus.

De Prato: Das ganze Programm stellt die Vielfalt der Instrumente und die Mehrdeutigkeit unserer Gruppe vor – auch in Bezug auf die Spieltechniken, mit extremen Unterschieden: Es gibt Skordatur, sehr leises Spiel, Dämpfer.

Bennardo: Vor allem Sivan Eldar und Mark Andre erforschen den Rand des Auseinanderfallens, wo der Klang nicht mehr stabil ist.

De Prato: Lewis‘ Komposition ist ein Stück, das wir in Darmstadt aufführen wollten, weil wir es schon seit einigen Jahren spielen und es eines unserer Lieblingsstücke unseres Repertoires ist. Es wurde eigens für das Mivos Quartet geschrieben.

Bennardo: Im Gegensatz dazu sind die Werke von Sivan Eldar, Alvin Singleton und Mark Andre neue Stücke für uns.

De Prato: Und abgesehen von den fantastischen Klangwelten wollten wir dieses Programm spielen, weil wir wussten, dass die meisten der Komponist:innen dieses Jahr in Darmstadt anwesend sein würden.

Eine unserer Hauptaufgaben ist nicht nur die Aufführung neuer Werke und die Vergabe von Kompositionsaufträgen, sondern auch die Zusammenarbeit mit Künstler:innen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlicher Ästhetik. Wir arbeiten also mit vielen Menschen zusammen, mit vielen Komponist:innen und Künstler:innen, mit Musiker:innen, die eher aus der improvisierten Musik kommen, vielleicht eher aus der Jazzwelt, obwohl wir in der Neuen Musik ja ohnehin alle irgendwie zusammen sind.

Olivia De Prato

Vollständiges Gespräch zwischen Mivos Quartet und Spółdzielnia Muzyczna (S. 62)

STRING QUARTET 2.5 “PLAYING WITH SEEDS”

Der Anthropologe Paul Richards hat über dreißig Jahre lang den Reisanbau durch Wanderfeldbau unter der Mende-sprachigen Bevölkerung des Dorfes Mogbuama in Sierra Leone untersucht. Richards versteht den Wanderfeldbau als ein System der Improvisation, das nicht nur Erfahrung und Intuition, sondern ebenso Kenntnisse über Landschaft, Boden, Wetter und mindestens 45 verschiedene Reissorten erfordert. Richards vergleicht diese Form der Improvisation mit der musikalischen, weist aber auch auf den Unterschied zwischen dem Sicherheitsnetz des strukturierten Kunstkontextes und einer realen Praxis in Echtzeit hin, in der falsche Schritte zu Hunger, Schulden und Tod führen können.

In dieser Gesellschaft sind die Frauen die wichtigsten Forscherinnen: Sie katalogisieren Pflanzensorten, führen neue Anbautechniken ein, prognostizieren und überwachen deren Auswirkungen auf die Umwelt, bewältigen Unwägbarkeiten und dienen als Gedächtnisstützen für die Ergebnisse. Die Saatgutexperimente der Frauen auf kleinen Parzellen – das „Spiel mit dem Saatgut“ – haben zur Entstehung neuer und widerstandsfähigerer Reissorten geführt, und diese Praxis bietet eine Analogie zur Funktionsweise dieses Streichquartetts. Die Musik wird aus „Samen“ gezüchtet, die sich durch Register, zeitlichen Fluss (Dehnung/Komprimierung), plötzliche Umkehrungen des scheinbaren Schicksals und das Nomadentum, das für den wechselnden Anbau zentral ist, zu neuen „Sorten“ entwickeln.

Ich möchte darauf hinweisen, dass die Beschäftigung mit diesem Werk, wie alles Zuhören, eine Form der nomadischen Improvisation darstellt – nicht von Seiten der Ausführenden, die es mit vollständig notierter Musik zu tun haben, sondern von Seiten des Publikums. In der mogbuamischen Gesellschaft gehören die Bauernhöfe „den Lebenden, den Toten und den noch Ungeborenen“. Und das ist eigentlich eine sehr schöne Situation für ein Musikstück.

George Lewis

Siehe: Paul Richards, “Shifting Cultivation as Improvisation”, in: „The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies“, Bd. 1, herausgegeben von George E. Lewis und Benjamin Piekut, New York: Oxford University Press 2016, S. 365-382.

Reisplantage

SOLICITATIONS

„Solicitations“: Lieder, Schreie, Flüstern sind eine Reihe von musikalischen Einladungen, die Grenzen als Angebote erkunden. In Solos, Duos, Trios und Quartetten tauscht das Ensemble Worte als Gesten aus, die sich als Berührungen am Rande des Verständlichen hängen. Das Stück baut auf meinem Trio „any bed but one’s“ auf und lässt sich von Fiona Sampsons haptischem Gedicht „Drowned Man“ inspirieren:

See how they sleep first he turns
away and then she turns
after him or now she turns
her back and he follows

rolled by an imperative
deeper than sleep
he rolls over like a wave
that turns itself over

sleepily with the sea’s deep
breathing with its rhythm
pulsing far out from land pulsing far
down in the dark

where creatures not yet formed are forming
where like half made beasts
his dreams swim among hers where
she hears his breathing far

above her nearer to the light
nearer to the white-topped
waves the white-peaked sheets his arm
thrown across her now

as she floats upward drawing him
out of deep tides crossing
their legs once more and morning lies
motionless to the horizon.

Sivan Eldar

Quartet Amabile spielt "Aquarius"

STRING QUARTET NO. 3: AQUARIUS

Ich habe immer gedacht, dass eine Gruppe von Streichinstrumenten mehr ist als nur eine Ansammlung von einzelnen Streichern. Wenn sie zusammen spielen, wird der Klang zu einem völlig anderen lebenden Organismus, wie ein anderes Instrument.

Der Klang einer Gruppe von Streichern – einschließlich des Streichquartetts – hat eine Elastizität. Meiner Meinung nach ist dies die einzige Kombination, die es ermöglicht, eine Form ständig in eine andere zu verwandeln, gewissermaßen eine Formverschiebung.

Es ist aber nicht nur die Form. Wenn ich einen solchen Klang höre, stelle ich mir vor, wie es ist, ihn zu berühren, zu quetschen oder zu essen. Ist er außen hart, aber innen weich? Oder umgekehrt? Wie schmeckt er?

Ich wollte ein Stück komponieren, das seine Form frei verändert, ohne Lücken oder ein erkennbares Gefühl von Abschnitten zu haben. Ehe man sich versieht, erzeugt das Streichquartett einen ganz anderen Klang als den, den es eben noch gespielt hat.

Da ich mir eine Art schwebende, flüssige Form vorstellte, dachte ich, Wassermann sei der perfekte Titel. Zufällig fand ich bei der Fertigstellung des Stücks heraus, dass wir gerade in das 2000 Jahre währende Zeitalter des Wassermanns eintraten (oder gerade eingetreten waren).

Ich hatte keine Ahnung von den astrologischen Zeitaltern – und interessiere mich auch nicht besonders dafür –, aber angesichts des Timings konnte ich nicht anders, als das Stück „Aquarius“ zu nennen.

Dai Fujikura (redigiert von Alison Phillips)

STRING QUARTET NO. 2 “SECRET DESIRE TO BE BLACK”

Erst 1988, mitten im Bürgerrechtskampf, komponierte Singleton sein zweites Quartett, „Secret Desire to Be Black“ – ein Auftragswerk für das Kronos Quartet. Singletons Gewohnheit, die Hörer:innen in den Bann zu ziehen, zeigt sich hier bereits im Titel. Noch vor dem ersten Ton kratzt sich der Zuhörer am Kopf und ist somit in das Stück involviert. Das Werk beginnt im Adagio, mit dem Cello, das in einer sich verschiebenden, Basso-continuo-ähnlichen Obligato-Linie gefangen ist, während sich die Geigen zu einem aufgeregten Zwitschern steigern und die Viola ein konstantes Schnarren hinzufügt. Das Werk fügt diese Motive in leicht abgewandelter Form immer wieder hinzu, wobei sich die erste Violinstimme zu einer kleinen Dolce-repeat-Linie entwickelt. Die zahlreichen Wiederholungen scheinen auf die Hörer:innen wie eine klangliche Fata Morgana zu wirken. Wenn sich die ersten zwei Drittel des Stücks dem Ende zuneigen, rollt das Cello weiter und wird schließlich in das Handgemenge hineingezogen, das in einem einzigen düsteren Akkord explodiert. Könnte dies eine Form des Widerstands sein – aufstehen, indem man sich abhebt? Nach einer langen intensiven Strecke scheint das Stück in einem sanfteren Schluss eine Lösung zu suchen.

In Abgrenzung zur empirischen Wissenschaft geht die Phänomenologie davon aus, dass komplexe Wahrheiten aus einfacheren aufgebaut sind, die wiederum aus noch einfacheren bestehen.

SIEBEN STÜCKE FÜR STREICHQUARTETT

Die „Sieben Stücke für Streichquartett“ lassen das klanglich-zeitliche Phänomen als „eidetische Reduktion“ (Husserl) der instabilsten, intensivsten, kompositorischen Zwischenzeiträume erfahren. Es betrifft alle entfaltenden, enthüllten, kompositorischen Klang-Signaturen der entschwundenen Aktions-Klang-Zeitkategorien und Ebenen. Die formale Gestaltung ist die eidetische, phänomenologische Ausdehnung davon. Die Signatur „bewahrt auch sein Anwesend-Gewesen-Sein in einem vergangenen Jetzt, welches ein zukünftiges Jetzt bleiben wird“ (Jacques Derrida: „Die Schrift und die Differenz“).
Letztlich geht es um das „Sich-an-ihm-selbst-zeigende“ (Martin Heidegger. „Sein und Zeit“).

Das entfaltete, kompositorische Verschwinden gehört zu den ganz zentralen Kategorien des Evangeliums und zu vielen Perikopen, wie das Abendmahl in Emmaus, Lukas 24 und 30–31.

Die „Sieben Stücke für Streichquartett“ sind dem Kuss Quartett gewidmet.

Mark Andre

© ️Andrej Grilc
© ️Andrej Grilc